KaufbefehleMusikkritik
Musik 12/2012 – Favo­ri­ten und Analyse

Die­ser Arti­kel ist Teil 10 von 26 der Serie Jah­res­rück­blick

Noch bis zum 31. Dezem­ber 2012 läuft auf Plattentests.de der „Jah­respoll“, und ich ken­ne nur einen sehr, sehr klei­nen Teil der dort auf­ge­führ­ten „Künst­ler“. Ich hat­te 2012 nun mal bes­se­re Musikal­ben zu hören als den immer­glei­chen Indiepop-Mist.

Und da schon wie­der Jah­res­en­de ist, freue ich mich dar­auf, euch mit gewohnt her­aus­ra­gen­der Gram­ma­tik den zwei­ten Teil (den ersten Teil gibt es hier) der Liste der mir am gefal­lend­sten Alben 2012 zu prä­sen­tie­ren. Kei­ne Sor­ge, selbst­ver­ständ­lich trägt jedes auf­ge­führ­te Album das übli­che Güte­sie­gel: Ohne Phil Coll­ins.

Big Big Train haben mit „Eng­lish Elec­tric Part I“ schon mal den ersten Teil eines Dop­pel­al­bums, das 2013 regu­lär erschei­nen soll, ver­öf­fent­licht. Ich wer­de mich dann 2013 dar­an set­zen, das Gesamt­kunst­werk zu hören und wahl­wei­se weg­zu­wer­fen oder an die­ser Stel­le zu wür­di­gen. Ein­mal muss rei­chen. Auf­merk­sa­me Leser wis­sen auch, dass ich es mir nicht neh­men las­se, auch zwi­schen den Rück­schau­en gele­gent­lich her­aus­ra­gen­de Musikal­ben zu emp­feh­len. Ich bit­te daher auch die neu­en Schei­ben von Guil­ty Ghosts, Pixel, Last Remai­ning Pin­na­cle, Bel­le­ru­che und Toc.Sin nicht aus den Augen zu verlieren.

Dies­mal ent­hält die Rück­schau eine Neue­rung, näm­lich eine Liste der Alben, die zu gut sind, um sie zu igno­rie­ren, aber für die auf der Besten­li­ste dann doch kein Platz mehr war. Wie immer liegt die Wahr­schein­lich­keit, dass ich ein rele­van­tes Album über­se­hen habe, den­noch bei unge­fähr 100 Pro­zent. Ergän­zun­gen sind erwünscht, über mir bis­lang unbe­kann­te Musi­ker erfah­re ich gern etwas, es kann ja sein, dass ihre Auf­nah­men selbst mir gefallen.

Lei­der konn­te ich nicht zu allen auf­ge­führ­ten Musikal­ben frei ver­füg­ba­re Hör­pro­ben fin­den, ich wer­de daher auch dies­mal gele­gent­lich auf Groo­veshark zurück­grei­fen, das in Deutsch­land nur über Pro­xy­ser­ver erreich­bar ist; Erklä­run­gen hier­zu kann ich bei Bedarf nach­rei­chen. Ich bit­te dies zu entschuldigen.

Nun ist’s aber genug des Geplän­kels. Los geht es wie gewohnt mit der Hauptliste:

1. Kauft dies!

  1. Mag­ma – Féli­ci­té Thösz

    Mag­ma sind wie­der da – oder immer noch? Tat­säch­lich ist „Féli­ci­té Thösz“ in gewis­ser Wei­se ein Neu­an­fang: Mit den bei­den nach lan­ger Pau­se ver­öf­fent­lich­ten Vor­gän­ger­al­ben „K.A“ und „Ëmëhn­tëhtt-Ré“ wur­de die „Köhntarkösz“-Trilogie, deren Anfän­ge bereits in den 1970er Jah­ren auf Kon­zer­ten zu hören waren, abge­schlos­sen, „Féli­ci­té Thösz“ ist nun also das erste neue Mag­ma-Album seit „Mer­ci“ (1984).

    Wie sei­ner­zeit „Mer­ci“ ist auch „Féli­ci­té Thösz“ für Mag­ma eher unty­pisch: Der düste­re, aus­ufern­de, hyp­no­ti­sche Zeuhl klingt fast voll­kom­men anders. Statt der bom­ba­sti­schen Kom­po­si­tio­nen sind kur­ze, beschwing­te Lie­der zu hören, wenn­gleich alle bis auf eines im 28-minü­ti­gen Titel­stück zusam­men­ge­fasst wur­den. Auch ande­re Gemein­sam­kei­ten mit „Mer­ci“ fal­len auf: Mit „Les hom­mes sont venus“ ist auch mal wie­der ein Stück mit einem fran­zö­si­schen Titel ent­hal­ten – in der kobaïa­ni­schen Welt von Mag­ma eine Sel­ten­heit, die erwähnt wer­den soll­te. Die Gesamt­lauf­zeit von „Féli­ci­té Thösz“ beträgt 32:24 Minu­ten. Gilt das schon als kom­plet­tes Album, oder ist das noch ein/e EP?

    Ver­gleicht man „Féli­ci­té Thösz“ mit den vor­he­ri­gen Alben, sieht es mit einer Bewer­tung also eher schlecht aus, denn das Mar­ken­zei­chen von Mag­ma, eben der Zeuhl, schwä­chelt hier ein wenig. Die Bewer­tung des Albums soll­te also nicht im Kon­text des Haupt­wer­kes von Mag­ma erfol­gen, son­dern eigen­stän­dig. Und als ein eigen­stän­di­ges Werk ist „Féli­ci­té Thösz“ gleich viel besser:

    Wie schon auf „Mer­ci“ herrscht eine fröh­li­che, bei­na­he aus­ge­las­se­ne Stim­mung; Les hom­mes sont venus wird von zwei Sän­ge­rin­nen zu rhyth­mi­scher Vibra­phon­be­glei­tung into­niert, ein­zig das repe­ti­ti­ve Muster kommt dem Mag­ma-Freund bekannt vor.

    Alles ande­re als ein „typi­sches“ Mag­ma-Album liegt hier also vor. Das ist eine merk­wür­di­ge und unge­wohn­te, aber will­kom­me­ne Abwechs­lung. Dass es so kurz ist, hat einen ein­fa­chen Grund: Zum Titel­stück gehört eigent­lich noch ein zwei­tes, das aber laut Schlag­zeu­ger, Grün­der und master­mind Chri­sti­an Van­der nicht dazu pass­te. Es ist also abseh­bar, dass Mag­ma noch lan­ge nicht in den Ruhe­stand gehen. Gut so.

    Hör­pro­ben:
    „Féli­ci­té Thösz“ gibt es via Groo­veshark als voll­stän­di­gen Stream.

  2. DeWolff – DeWolff IV

    Die süd­nie­der­län­di­sche (die Him­mels­rich­tung muss dem Trio sehr wich­tig sein, denn sie beto­nen sie auf ihrer Inter­net­sei­te an meh­re­ren Stel­len) For­ma­ti­on DeWolff wur­de im Jahr 2007 von den bei­den Brü­dern Pablo (Gesang, Gitar­re) und Luka van de Poel (Schlag­zeug) sowie Robin Piso (Orgel, Hin­ter­grund­ge­sang) gegrün­det. Auf ihrem im Juni erschie­ne­nen drit­ten (!) Voll­zeit­al­bum „DeWolff IV“ – das unbe­ti­tel­te Debüt schaff­te es nur als EP mit sechs Stücken in den Han­del – trei­ben DeWolff wei­ter­hin ihr Spiel mit den Gen­res. Blues­rock (Six Holes & A Ghost) trifft auf Psy­che­de­lic Rock, Hard­rock und gele­gent­li­che Stoner-Rock-Anklän­ge (Devil’s Due).

    Ihre Plat­ten­fir­ma ver­gleicht DeWolff voll­mun­dig mit Pink Floyd, Cream und Deep Pur­ple und liegt damit nicht so sehr dane­ben, wie man das eigent­lich mei­nen soll­te, immer­hin sind Pink Floyd und Cream ein­an­der unge­fähr so ähn­lich wie Apple und das Rote Kreuz. Die Musi­ker selbst bezeich­nen ihren Stil als „psy­che­de­li­schen, elek­tri­fi­zier­ten, fuzzge­tränk­ten, eksta­ti­schen, hart groo­ven­den Space-Rock‑n’-Roll“. Immer­hin ist das aus­sa­ge­kräf­ti­ger als „Wir sind eine Rockband“.

    Gen­re­quark hin oder her: Gefäl­lig ist das Zusam­men­spiel der drei Her­ren zwei­fels­oh­ne. Selbst der Sän­ger, der gele­gent­lich ein wenig nach Robert Plant, manch­mal auch nach den Beat­les (die sich ja damals alle vier recht ähn­lich anhör­ten) klingt, gele­gent­lich aber auch ganz anders, schafft es, mich der­art zu über­zeu­gen, dass ich ihn hier sepa­rat erwäh­ne, was bekann­ter­ma­ßen nicht oft vor­kommt. Und obwohl man sich bei­na­he aus­nahms­los in den musi­ka­li­schen 1970-er Jah­ren bedient, hat man beim Kon­sum der 11 Stücke kei­ne Sekun­de lang das Gefühl, das alles schon mal gehört zu haben.

    Natür­lich ist ín den zitier­ten Gen­res auch mit­un­ter ein Aus­fall zu ver­zeich­nen. Das ruhi­ge „Devil On A Wire / The Tele­pho­ne“ etwa ist trotz der ange­schräg­ten Streicher(?)begleitung so unauf­fäl­lig, dass es das Hör­ver­gnü­gen in kaum merk­li­chem Maße beein­träch­tigt; gesagt wer­den soll’s dann aber doch. Wobei es eigent­lich all­ge­mein Blöd­sinn ist, „DeWolff IV“ nach den ein­zel­nen Stücken zu bewer­ten, da die Über­gän­ge qua­si flie­ßend sind und der Hörer somit die Titel- eher als Kapi­telliste lesen soll­te. (Das reimt sich.) Das letz­te die­ser Kapi­tel, Vicious Times, stei­gert sich zum Ende hin zu einer dis­so­nan­ten Kli­max und klingt dann, lei­se brum­mend, aus. Und obwohl die­ses Buch schwä­che­re Kapi­tel hat, ist es in der Sum­me ein sehr emp­feh­lens­wer­tes Werk, das man zumin­dest mal gele­sen haben sollte.

    Hör­pro­ben:
    Zur­zeit (11. Dezem­ber) steht auf der Web­site der Band das kom­plet­te Album zum Anhö­ren zur Verfügung.

  3. Sebkha-Chott – The Ne[XXX]t Epi­log v1.0

    Auf Sebkha-Chott (die etwa­ige Bedeu­tung des Namens ist mir, Ver­zei­hung!, nicht bekannt) wur­de ich im, wenn ich mich recht ent­sin­ne, vor­letz­ten Jahr eher zufäl­lig auf­merk­sam. Sie wur­den gele­gent­lich im Zusam­men­hang mit der mitt­ler­wei­le auf­ge­lö­sten Avant­gar­de-Metal-Kaba­rett-Grup­pe Slee­py­ti­me Goril­la Muse­um erwähnt. Beim ersten Anhö­ren war mir das Dar­ge­bo­te­ne aller­dings deut­lich zu schräg, und wer mich oder auch nur eine mei­ner ver­gan­ge­nen Besten­li­sten kennt, der weiß, dass das schon wirk­lich schräg sein muss.

    Aller­dings habe ich seit­dem viel Musik gehört, die mein Schräg­heits­emp­fin­den ein wenig gedehnt hat. Dem neu­en Album von Sebkha-Chott – „The Ne[XXX]t Epi­log v1.0“ – gewähr­te ich also eine zwei­te Chan­ce, und das war im Nach­hin­ein nicht die schlech­te­ste von mir jemals getrof­fe­ne Entscheidung.

    War­um v1.0? Nun, es han­delt sich um ein „wach­sen­des“ Album, das bereits die Fort­ent­wick­lung des Albums „Nigla(h) – Tapis­se­ries Fines en XXX Scripts et LXX/X Trom­pet­tes“ von 2008 ist und zum Groß­teil aus über­ar­bei­te­ten Ver­sio­nen der glei­chen Stücke besteht. Mit v0.9, das nur Phi­al Shapes und den kur­zen Free Soft­ware Song ent­hält, wur­de am 1. Okto­ber 2012 die erste Fas­sung ver­öf­fent­licht. Wäh­rend v1.0 – nun in vol­ler Län­ge – auf einem phy­si­schen Ton­trä­ger daher­kommt, wird das Album qua­si kon­ti­nu­ier­lich wei­ter­ent­wickelt. Am 1. Dezem­ber die­ses Jah­res wur­de „Ver­si­on 1.1“ auf der Web­site der Band (die lei­der ziem­lich unüber­sicht­lich ist) ver­öf­fent­licht, aller­dings (so weit mir bekannt ist) ledig­lich als Stream. Damit ent­geht dem Musik­freund ziem­lich gutes art­work in Form eines schlich­ten Papp­kar­tons mit reich­lich kom­ple­xem Spin­nen­netz-Muster, das die Titel der Stücke und eini­ge wei­te­re Infor­ma­tio­nen beinhal­tet. Die Stücke tra­gen Namen wie Nigla(h) und sind unter­teilt in bis zu neun „Kapi­tel“, die schon mal Titel wie Nigla(h) I: Varia­ti­ons hemor­ra­gi­ques sur l’A­gnus Dei tra­gen. Kom­plex? Ja. Somit jedoch mehr als nur pas­send zur Musik.

    Laut der Plat­ten­fir­ma Musea haben Sebkha-Chott ihren Stil „Meka­nik Metal Dis­co“ genannt. Das Wort „Meka­nik“ soll­te nun eben­so wie Ver­glei­che mit Mag­ma nie­man­den in den Glau­ben ver­set­zen, es han­de­le sich um Zeuhl. Mit­nich­ten! Sebkha-Chott sind bereits zusam­men mit Extra Life und uneX­pect auf Tour gewe­sen. Das trifft es wahr­schein­lich besser.

    Dass die mehr oder weni­ger renom­mier­te Web­site Progarchives.com für „The Ne[XXX]t Epi­log v1.0“ momen­tan 1 von 5 Punk­ten („nur für Samm­ler“) ver­gibt, ist wahr­schein­lich ein Qua­li­täts­kri­te­ri­um – der Punk­te­ge­ber war womög­lich gleich­sam über­for­dert wie ich.

    Aber was ist das hier über­haupt? Ver­mut­lich wäre es mit „Avant­gar­de-Kaba­rett-Metal-Rock“ gut umschrie­ben. Es wech­seln sich auf Fran­zö­sisch gespro­che­ne und gekreisch­te Pas­sa­gen, instru­men­ta­le und nur mit Geräu­schen unter­leg­te eben­sol­che, Blas­mu­sik und Death-irgend­was in rascher Fol­ge ab. Hier wird etwas erzählt, dort bricht bereits das Gewit­ter los, nur um gleich wie­der zu ver­stum­men. Geht das als „Musik“ durch? Zumin­dest sind’s Klän­ge. Den Avant­gar­de­freund freut es. Zu Nigla(h) I gibt es sogar ein gleich­falls ziem­lich unnor­ma­les Video. Das ist har­te Kost, aber man soll­te sie mal pro­biert haben.

    Hör­pro­ben:
    Per Bandcamp.com sind sämt­li­che Musikal­ben der Band – inklu­si­ve The Ne[XXX]t Epi­log v1.0 und v1.1 – anhör­bar und käuflich.

  4. echo­lyn
    „She’d love to fly but the sky won’t hold her.“ (Past Gravity)

    Die Sym­pho­nic-Pro­gres­si­ve-Rock-Band echo­lyn aus den Ver­ei­nig­ten Staa­ten von Ame­ri­ka, die nor­ma­ler­wei­se ja nicht gera­de als die Wie­ge des Pro­gres­si­ve Rock bekannt sind, hat sich im Jahr 2012 auf beein­drucken­de Wei­se nach sie­ben Jah­ren Pau­se wie­der ein­mal zurückgemeldet.

    Das neue Album trägt kei­nen Titel, auf dem Cover­bild ist jedoch ein Fen­ster zu sehen. Es liegt daher nahe, es wie vie­le die­ser Rezen­si­ons-Web­sites „The Win­dow Album“ oder schlicht – wie bereits das Debüt von 1991 – „echo­lyn“ zu nen­nen, wenn man denn unbe­dingt einen Namen braucht. Namen jedoch, Freun­de, sind Schall und Rauch. Las­sen wir statt­des­sen die Musik für sich sprechen!

    Und die ist beein­druckend: Das Dop­pel­al­bum – bestehend aus zwei­mal vier Stücken, die ins­ge­samt auch auf eine ein­zi­ge CD gepasst hät­ten, aber man hat sich sicher­lich etwas dabei gedacht – beginnt mit Island, mit 16:37 Minu­ten das läng­ste der Stücke, und somit mit (recht gutem) Rock.

    Alte Stär­ken – ver­track­te Melo­die­läu­fe mit inter­es­san­tem Gitar­ren­spiel (The Car­di­nal and I) – tref­fen auf unge­wohn­te Neue­run­gen wie das fast elf­mi­nü­ti­ge (Spea­king In) Lampb­lack, das in sei­ner Melan­cho­lie und Besinn­lich­keit an Sigur Rós‘ schreck­lich über­be­wer­te­te Groß­tat „( )“ erin­nert. Dabei ist gera­de (Spea­king In) Lampb­lack auch aus musik­hi­sto­ri­scher Sicht inter­es­sant, immer­hin erweist die Band mit ihm einer der älte­sten bekann­ten hör­ba­ren Auf­zeich­nun­gen von mensch­li­cher Stim­me ihre Reve­renz. „The Car­di­nal and I“ als letz­tes Stück auf dem Album endet uner­war­tet mit einer reich­lich schrä­gen Barbershop-Remineszenz.

    Inter­es­sant sind auch die Tex­te:

    Es lohnt sich mal einen Blick auf die Tex­te zu wer­fen oder ein­fach genau hin­zu­hö­ren. Da gibt es mal ein Sprach­sam­ple, wel­ches gerüch­te­wei­se ein zufäl­lig ent­stan­de­ner Mit­schnitt eines Streits in der Nach­bar­schaft von Ray West­on ist. Hier wird völ­lig unvoy­eu­ri­stisch ein all­täg­li­ches Dra­ma als Grund­la­ge eines nach­denk­li­chen Songs ein­ge­baut, faszinierend.

    Natür­lich kann man kein zwei­tes Monu­men­tal­werk wie „mei“ erwar­ten, das in der Dis­ko­gra­fie von echo­lyn uner­reicht blei­ben dürf­te. In punc­to musi­ka­li­scher Viel­sei­tig­keit, Rei­fe und nicht zuletzt Tie­fe aber ist das 2012er Werk der US-Ame­ri­ka­ner ein gro­ßer Schritt nach vorn. Es wird schwer, das zu über­bie­ten – aber auch eine hohe Mess­lat­te soll­te stets ein Ansporn und kei­ne Hür­de sein. Auf den näch­sten Sprung bin ich gespannt; hof­fent­lich nicht erst in sie­ben Jahren.

    Hör­pro­ben:
    Amazon.de bie­tet die übli­chen Hör­schnip­sel an.

  5. Beak> – »

    Beak>. Schna­bel>. Ja, zwei­fels­oh­ne. Der Zweit­ling „»“ lässt sich ent­spre­chend inter­pre­tie­ren: Zwei Schnä­bel, das zwei­te Album von „Schna­bel>“ oder ein­fach nur schnel­les Vorspulen?

    Inter­es­sant ist, was die Man­nen um Port­is­head-Mit­glied Geoff Bar­row hier vor­le­gen, völ­lig unab­hän­gig vom Titel, denn der etwas ein­schlä­fern­de Trip-Hop sei­ner ande­ren Haupt­band ist hier einer pri­maen Melan­ge aus Kraut­rock, Ambi­ent und Pop gewi­chen. Jochen Rind­frey von den Baby­blau­en Sei­ten erkennt Neu! und Har­mo­nia als Inspi­ra­ti­ons­quel­len. In Stücken wie Wulfstan II klingt das Trio gele­gent­lich auch nach eben­falls ziem­lich guten Musi­kan­ten wie WIVE (man höre etwa deren Teethy zum Vergleich).

    Erfreu­li­cher­wei­se wird auch (etwa in „Yat­ton“) gesun­gen, und das nicht mal übel. Caro­lin van Mark schreibt im Maga­zin „Intro“, Aus­ga­be 204, über den Gesang:

    Drum-Parts zie­hen sich wie eine Art Tem­po­mat durch die Songs, die gele­gent­lich auf­tau­chen­de Stim­me for­mu­liert eben­falls eine Span­nung aus, die sel­ten auf­ge­löst wird. Wie wenn man nie­sen muss – aber nur beinah.

    Kurz gesagt: Hier bro­delt es stän­dig bis kurz vor dem Aus­bruch, aber der kommt nicht. Das ist gut und hält die Span­nung auf­recht. Wer im Juni 2011 mei­ner Emp­feh­lung von Kreid­lers „Tank“ folg­te und dies nicht bereu­te, der möge hier eben­falls zugreifen.

    Muss ja nicht blind sein.

    Hör­pro­ben:
    Hör­pro­ben (soll hei­ßen: das kom­plet­te ver­damm­te Album) gibt’s für lau auf Band­camp oder, wie üblich, aus­zugs­wei­se auf Amazon.de zum Streamen.

  6. The Mel­vins – Freak Puke

    Mit einem Brum­men und merk­wür­di­gem Ras­seln, Tuten und Quiet­schen beginnt das Album „Freak Puke“ der US-ame­ri­ka­ni­schen Musik­grup­pe The Mel­vins (gele­gent­lich auch: Mel­vins). Die­se Geräu­sche gehen nach einer Wei­le über in so etwas wie eine Rock­fas­sung von Pink Floyds Money mit Regi­strier­kas­sen­klin­geln und ande­ren Geräu­schen, die Front­mann Buzz Osbor­ne nach einer wei­te­ren Wei­le mit einer elek­tri­schen Gitar­re beglei­tet und dazu sphä­ri­schen Gesang wie einst­mals das Duo Roger Waters und David Gilmour vor­trägt. Das Stück Mr. Rip Off trägt sei­nen Namen viel­leicht nicht zu Unrecht.

    Anson­sten sind zu hören: Schrä­ge Strei­cher- und son­sti­ge Klang­ex­pe­ri­men­te („Inner Ear Rup­tu­re“) und aller­lei Post-Punk- und Grunge-Anlei­hen (Baby, Won’t You Weird Me Out), die Stim­mung ist aus­ge­las­sen bis mit­un­ter mor­bid (Worm Farm Waltz). „Leon vs. The Revo­lu­ti­on“ erklärt, wie­so die Mel­vins in der eng­lisch­spra­chi­gen Wiki­pe­dia als Sludge-Metal-Band bezeich­net werden.

    Woher die­se Expe­ri­men­tier­freu­de? Nun, auf „Freak Puke“ spielt unter ande­rem Bas­sist Tre­vor Dunn, der anson­sten mit Mike Pat­ton (Mr. Bungle), John Zorn und ähn­li­chen Expe­ri­men­tal­mu­si­kern zusam­men­ar­bei­te­te und zusam­men­ar­bei­tet. An sei­ner Stel­le muss­ten die regu­lä­ren Band­mit­glie­der Jared War­ren (Bass) und Coa­dy Wil­lis (zwei­tes Schlag­zeug) zu Hau­se blei­ben. Es ist davon aus­zu­ge­hen, dass allein die­se Per­so­na­lie schon gro­ßen Ein­fluss dar­auf hat­te, wie „Freak Puke“ klingt.

    Dabei sind die Mel­vins trotz der (hier) klas­si­schen Punk­band-Beset­zung (Schlag­zeug, Bass, Gitarre/Gesang) noch nie ein­deu­tig einem Gen­re zuzu­ord­nen gewe­sen. Seit ihrer Grün­dung 1983 haben sie 21 Stu­dio­al­ben in ver­schie­de­nen Beset­zun­gen ver­öf­fent­licht, außer Buzz Osbor­ne ist von der Ori­gi­nal­be­set­zung nie­mand mehr geblie­ben. Auf­fäl­lig ist allen­falls, dass es in den letz­ten 29 Jah­ren über­wie­gend eine sol­che Trio­be­set­zung gab.

    Obwohl sie sti­li­stisch eine eige­ne Nische beset­zen, ist der Ein­fluss der Mel­vins auf ande­re Musik­grup­pen unver­kenn­bar; unter ande­rem bezeich­ne­te Kurt Cobain (Nir­va­na) sie gele­gent­lich als sei­ne Lieb­lings­band. (Dass auf „Freak Puke“ mit Let Me Roll It auch ein Stück von Paul McCart­ney und den Wings geco­vert wird, ist schon des­halb ein recht wit­zi­ger Einfall.)

    Gefal­len könn­te „Freak Puke“ allen, die Post-Punk (und eine zah­me Ver­si­on von Mr. Bungle) mögen. Wer davon noch nie etwas gehört hat, dem emp­feh­le ich, zunächst ein­mal hineinzuhören.

    Hör­pro­ben:
    Mit Aus­zü­gen kann Amazon.de auf­war­ten, via Groo­veshark gibt es „Freak Puke“ in vol­ler Län­ge zu hören.

  7. The Hirsch Effekt – holon : anamnesis
    „Wer sich jetzt noch umdreht, ist sel­ber schuld.“ (Ana­mne­sis)

    The Hirsch Effekt, die ich bereits 2010 einen musi­ka­li­schen Wahn­sinn nann­te, nah­men Anfang die­ses Jah­res ihren Zweit­ling „holon : ana­mne­sis“ (zu Deutsch unge­fähr „Sei­en­des: Erin­ne­rung“) als Nach­fol­ger von „holon : hiber­no“ (zu Deutsch sicher­lich auch irgend­et­was) auf, der Ende August schließ­lich offi­zi­ell erschien. Die VISIONS (Nr. 234) mag die­ses Album und ich mag es trotz­dem auch.

    Ver­gli­chen mit dem Debüt­al­bum hat sich nur wenig ver­än­dert. Die Stil­viel­falt, der hek­ti­sche Wech­sel zwi­schen Klas­sik und METAL \m/ haut den erfah­re­nen The-Hirsch-Effekt-Hörer nicht mehr über­rascht vom Stuhl, was ein biss­chen scha­de ist, denn vor­lie­gen­des Album ist, was man so leicht ver­kennt, qua­si der ulti­ma­ti­ve rocken­de Wol­per­tin­ger.

    Die Zahl der Gast­mu­si­ker ist noch­mals gestie­gen, ich zäh­le 32 (ver­gli­chen mit den 17 vom Debüt­al­bum, auf dem aller­dings auch der Kam­mer­chor Han­no­ver mit­wirk­te). Zu die­sen Gast­mu­si­kern gehört auch Tobi­as Lietz von Caleya, mit denen The Hirsch Effekt gele­gent­lich gemein­sam musi­zier­ten und 2010 unter dem Titel „Apo­gæum / Peri­gæum“ eines die­ser neu­mo­di­schen Split-EPs ver­öf­fent­lich­ten und deren Album „Trÿm­mer­mensch“ (pro­du­ziert von Nils Witt­rock, Sän­ger und Gitar­rist bei The Hirsch Effekt) ich 2011 emp­fahl. Tobi­as Lietz steu­ert Gesang bei, aber das macht nichts.

    Mit Kam­mer­mu­sik beginnt das Album: Ana­mne­sis haut dem Hörer nicht gleich die vol­le Breit­sei­te über den Schä­del, son­dern ist eine bei­na­he sanf­te Ein­lei­tung in das zwei­te Stück Limer­ent. Der Über­gang ist flie­ßend. Die neun Stücke sind trotz­dem neun Stücke, weil zwi­schen dem bra­chia­len Mara und dem beein­drucken­den Indie-Rock-Stück Irrath eine opern­haf­te Choral­pas­sa­ge mit Sopran­sän­ge­rin, Tenor, Bass und Coun­ter­te­nor ein­ge­scho­ben ist, die in den liner notes zwar kei­nen eige­nen Namen hat, aber als „Teil dazwi­schen“ bezeich­net wird. Irre, nicht nur wegen des unge­wöhn­li­chen Musikstils.

    Gesun­gen wird wei­ter­hin – mit Aus­nah­me des Sat­zes What took you so long? in Limer­ent, bei des­sen Lesen ich umge­hend an den gleich­na­mi­gen Pop­quatsch von Emma Bun­ton, dem ehe­ma­li­gen ehe­ma­li­gen Spi­ce Girl, dach­te, was zeigt, dass MTV mei­ne frü­he Jugend nach­hal­tig ver­dor­ben hat; aber zurück zu The Hirsch Effekt – auf Deutsch. Ob man von Gesang spre­chen soll­te? Nils Witt­rock kann zwar auch har­mo­nisch, aber er bevor­zugt Wild­heit. Von Banau­sen oft geschol­te­nes Geschrei fehlt hier wie schon auf dem Debüt nicht, ist aller­dings jeden­falls für mich nicht als Aus­druck von Gefähr­lich­keit – „raaah, wir sind so böse!“ – zu erken­nen, son­dern als Par­odie auf ein gan­zes Gen­re. Wo es passt, wird auch schon mal Aggres­si­on her­aus­ge­brüllt. Der Titel Ira (latei­nisch „Zorn“) trägt sei­nen Namen nicht zu Unrecht.

    Apro­pos: Die Tex­te sind gewohnt klas­se. Es geht wie schon bis­her vor allem um unglück­li­che Lie­be, was ja nicht schlimm ist, wenn man es in Wor­te und vor allem Melo­dien klei­det, aus denen nicht der Schmalz trieft. Obwohl die Meta­pher vom „Kot­zen vor Glück­lich­sein“ noch­mals auf­ge­grif­fen wird, kann man sich über man­geln­de Krea­ti­vi­tät offen­sicht­lich nicht bekla­gen: Was ist schon der Tod im Ver­hält­nis zu dir und der Kunst, die Gelas­sen­heit, die mir so fehlt, zu haben? (Agi­ta­ti­on)

    The Hirsch Effekt betrei­ben hier nicht nur Denk­mal­pfle­ge, sie ent­wickeln ihren Stil kon­se­quent wei­ter. Zwar ist der Über­ra­schungs­ef­fekt auf dem zwei­ten Album ver­flo­gen, dafür wur­de der bekann­te Stil ver­fei­nert. Die Arran­ge­ments, die die Musik beglei­ten, sind erst­klas­sig. Das abschlie­ßen­de Dato­rie rührt mit der Kom­bi­na­ti­on aus Strei­chern und Text (Und das, was mir hier so fehlt, / ist ganz bestimmt nicht bil­lig, / sonst wärst du ja noch hier) zu Trä­nen. Das Stück stei­gert sich – das wird all­mäh­lich zur Gewohn­heit auf Musikal­ben – in eine leicht schrä­ge Kli­max mit zur Wut gestei­ger­tem Gesang, und das Album ist bei­na­he aus.

    „holon : ana­mne­sis“ ist kei­ne Sta­gna­ti­on auf hohem Niveau. Es wird nicht sta­gniert, es wird poliert. Man bewun­de­re den Fein­schliff ehr­fürch­tig und labe sich an die­sem Album.

    Hör­pro­ben:
    Wer glaubt, dass ihm 30 Sekun­den genü­gen, der möge auf Amazon.de in das Album hineinhören.

  8. Dino­saur Jr. – I Bet on Sky
    „I’ve been left with a bad taste now can you see it“ (See it on your side)

    Dino­saur Jr. (das „Jr.“ häng­ten sie kurz nach ihrer Grün­dung Mit­te der 1980-er Jah­re an ihren Namen, um eine älte­re Hip­pie­band namens Dino­saurs zu ärgern) sind schon eine gan­ze Wei­le im Geschäft. Alle drei am Debüt­al­bum „Dino­saur Jr.“ (1985) betei­lig­ten Musi­ker sind noch bezie­hungs­wei­se wie­der Mit­glied der Grup­pe. Die sie­ben Jah­re Aus­zeit, die sich Dino­saur Jr. von 1998 bis 2005 nah­men, hat ihnen sicht­lich und vor allem hör­lich gut getan.

    Zu hören ist erdi­ger Blues­rock mit Ein­spreng­seln von Alter­na­ti­ve, Noi­se und Punk. („Punk ist tot“ ist tot.) Jörn Schlü­ter („Rol­ling Stone“) schreibt ein wenig differenzierter:

    [D]ie Band ins­ge­samt bei ihren Lei­sten: schwan­ken­de Mid­tem­po-Hard­rocker mit Black-Sab­bath-Riffs, dünn-gebro­che­ner Gesang, schmat­zen­de Cra­zy-Hor­se-Soli, ultratrau­ri­ge, im Gitar­ren­in­fer­no ver­senk­te Pop­sch­mach­ter und pum­pen­de Punkrock-Explosionen.

    Und immer die­se Tex­te: Caring is rude / and natu­re is cruel (Rude). Zuver­sicht­lich ist hier nichts. Der Prot­ago­nist sämt­li­cher Tex­te ist zumeist zynisch-depri­miert und hoff­nungs­los. Can you help me along with things?, fragt er in Stick a toe in und war­tet gar nicht erst auf eine Ant­wort. Möge der Him­mel helfen.

    „I Bet on Sky“. Wer nicht auf Tex­te ach­tet, den dürf­te die­ses Album in Fei­er­stim­mung ver­set­zen, wer es tut, dem könn­te es ein trö­sten­der Beglei­ter sein: Schau, ande­ren geht’s auch nicht bes­ser. Die Musik jeden­falls ist Rock, wie ich ihn die­ses Jahr lei­der viel zu sel­ten gehört habe. Und von guter Rock­mu­sik kann man nie genug haben.

    Hör­pro­ben:
    Halb­mi­nü­tig darf auf Amazon.de, kom­plett auf Grooveshark.com rein­ge­hört werden.

  9. The Flower Kings – Banks of Eden
    „In the cen­ter of grief it’s the hour of need, the bell strikes for dar­ker days.“ (Pan­de­mo­ni­um)

    In den 1990-er Jah­ren wuchs das Retro-Prog-Gen­re, des­sen Ver­tre­ter sich über­wie­gend auf Yes, Gene­sis und Gent­le Giant beru­fen, her­an zu einem unüber­schau­bar wuchern­den Gestrüpp, in dem man sich leicht ver­fan­gen konn­te. Eini­ge weni­ge Ver­tre­ter (zum Bei­spiel Äng­la­gård, Beard­fi­sh und die oben bereits erwähn­ten echo­lyn) schaff­ten es, sich mit einem eigen­stän­di­gen Stil aus der Mas­se posi­tiv abzu­he­ben, eini­ge ande­re gin­gen glück­li­cher­wei­se unter.

    Und dann sind da noch die Flower Kings.

    Von den Flower Kings hal­te ich nicht mehr als nötig. Grün­der Roi­ne Stolt kann man zugu­te­hal­ten, dass er zumin­dest den Pro­gres­si­ve Rock noch aus erster Hand kennt, immer­hin war er in den 1970-er Jah­ren (und noch­mals vor weni­gen Jah­ren) in der schwe­di­schen Band Kai­pa aktiv. Dass Kai­pa seit ihrer Refor­mie­rung im Jahr 2000 wie die Flower Kings klin­gen, ist eine iro­ni­sche Fuß­no­te. Roi­ne Stolt ist sozu­sa­gen der schwe­di­sche Bil­ly Sher­wood: Sobald er betei­ligt ist, klingt alles nach Roi­ne Stolt. (Dass ich das, was Roi­ne Stolt tut, grund­sätz­lich musi­ka­lisch bes­ser fin­de als das, was Bil­ly Sher­wood tut, soll­te die­ser Aus­sa­ge zumin­dest bei­gefügt werden.)

    Mein per­sön­li­ches Pro­blem mit den Flower Kings ist die Belie­big­keit, mit der sie agie­ren. Natür­lich ist das, was sie auf ihren Alben zu Gehör brin­gen, hand­werk­lich gut, aber es klingt eben immer irgend­wie gleich. Man stel­le sich vor, Gene­sis ohne Phil Coll­ins und mit Ste­ve Hackett wür­den vier­zig Jah­re spä­ter gemein­sam musi­zie­ren. Das sind die Flower Kings. (Wer jetzt, wie ich, das Gum­mi­bä­ren­lied im Kopf hat: Selbst schuld.)

    Vor die­sem Hin­ter­grund ist „Banks of Eden“ nicht mal schlecht. Dass es außer der nor­ma­len Ein-CD-Ver­si­on auch ein Dop­pel­al­bum gibt, das außer ein wenig mehr Musik auch ein Inter­view mit den Musi­kern zur Ent­ste­hung des Albums beinhal­tet, sei mal ver­zie­hen, gera­de im Pro­gres­si­ve-Rock-Sek­tor wer­den Ein­zel-CDs heut­zu­ta­ge schon fast als Rari­tät betrach­tet. (Der geneig­te Musik­freund ärgert sich ein wenig dar­über, dass Plat­ten­fir­men das vor vier­zig Jah­ren anders gese­hen haben.) Man muss es ja nicht gleich über­trei­ben wie King Crims­on, deren „Larks‘ Ton­gues in Aspic“ in die­sem Jahr auf 13 (drei­zehn!) CDs, 1 DVD-Audio und 1 Blu-Ray-Schei­be (macht 15 Schei­ben ins­ge­samt) neu auf­ge­legt wur­de. Aber wir schwei­fen ab.

    Das Album selbst – die Ein­zel-CD-Ver­si­on – hat eine Spiel­zeit von 53:25 Minu­ten und ist damit durch­aus län­ger als das durch­schnitt­li­che Album heut­zu­ta­ge. Das könn­te zwar reich­lich ein­tö­nig wer­den, aber die Chan­ce, dass doch noch irgend­was Her­aus­ra­gen­des pas­siert, ist auf län­ge­ren Alben bekannt­lich grö­ßer als auf kür­ze­ren. Und tat­säch­lich: Obwohl „Banks of Eden“ gele­gent­lich aus alt­be­kann­tem AOR in unauf­fäl­li­gen Tak­ten besteht, gibt es doch die Aha-Momen­te; viel­leicht häu­fi­ger als auf den mei­sten vor­he­ri­gen Flower-Kings-Alben.

    So ein Moment ist etwa For The Love Of Gold, in dem die Musi­ker sich alle Mühe geben, ihr zwei­tes gro­ßes Vor­bild Yes aus­führ­lich zu wür­di­gen. Das mar­kan­te Bass­spiel Chris Squi­res fehlt zwar auch wei­ter­hin, aber sel­ten waren die Flower Kings so weit ent­fernt vom immer­glei­chen Sta­di­on­rock. Mit Num­bers (25:20 Minu­ten) gibt es auch wie­der – wie für die Flower Kings üblich, die­se Marot­te haben sie eben­falls bei ihren Vor­bil­dern abge­schaut – einen longtrack zu hören. Ich wage zu behaup­ten: Wer Yes und Gene­sis mag und auch nichts gegen etwas weni­ger fal­set­tier­ten Gesang ein­zu­wen­den hat, dem gefällt „Banks of Eden“ eben­falls. Und dann wird er sich alles ande­re kau­fen, was die Flower Kings bis­her ver­öf­fent­licht haben, und dem Rest die­ser Liste kei­ne Auf­merk­sam­keit mehr wid­men, weil das so lan­ge dau­ert und er es danach ver­ges­sen haben wird. Scha­de. Ich hof­fe, das geht nicht vie­len so. Übri­gens haben Kai­pa in die­sem Jahr mit „Vitt­jar“ eben­falls ein neu­es Album her­aus­brin­gen las­sen, das ich nicht uner­wähnt las­sen möchte.

    Ich mag Gene­sis ohne Phil Coll­ins.

    Hör­pro­ben:
    In alle Musik­stücke von bei­den (!) CDs kann man unter ande­rem auf Amazon.de hineinhören.

  10. Neneh Cher­ry & The Thing – The Cher­ry Thing
    „Keep tho­se dreams burn­in‘ fore­ver“ (Dream Baby Dream)

    Neneh Cher­ry ist halb­ge­schwi­ster­lich mit Eagle-Eye Cher­ry (Save Tonight) ver­wandt und hat 1994 gemein­sam mit dem mir gleich­falls erfreu­lich unbe­kann­ten Yous­sou N’Dour die grau­en­vol­le Sin­gle 7 Seconds auf­ge­nom­men und/oder ver­öf­fent­li­chen las­sen, die im Radio eine Zeit­lang rauf und run­ter lief.

    Hat euch das abge­schreckt? Das ist bedau­er­lich! Hier näm­lich ist Neneh Cher­ry aus­nahms­wei­se nicht mit irgend­ei­nem schlech­ten Pop­mu­si­ker zusam­men zu hören, son­dern mit dem skan­di­na­vi­schen Free-Jazz-Trio The Thing, deren Mit­glie­der (Paal Nils­sen-Love, Mats Gustafs­son und Inge­b­rigt Håker Fla­ten) in die­sem Gen­re alle­samt kei­ne Unbe­kann­ten sind. Free Jazz – ich erklä­re es kurz – ist das, was eure Eltern „MACH DEN MIST AUS!“ nennen.

    Die­se Wand­lung ist nur wenig über­ra­schend, Neneh Cher­rys Stief­va­ter Don Cher­ry war ein dem Ver­neh­men nach nicht unta­len­tier­ter und nicht unbe­kann­ter Free-Jazz-Trom­pe­ter. Kon­se­quen­ter­wei­se ist auf „The Cher­ry Thing“ nur wenig Pop zu hören, statt­des­sen wird ein so frei­er Jazz gespielt, dass auch RIO/A­vant-Freun­de wie ich auf ihre Kosten kom­men. Wer Jazz zu lang­wei­lig fin­det, der könn­te „The Cher­ry Thing“ trotz­dem – oder erst recht – mögen. Von „kon­trol­lier­tem Cha­os“ ist im Inter­net die Rede. Der geneig­te Musik­freund ver­nimmt zudem – und sei’s nur die Instru­men­tie­rung – Erin­ne­run­gen an die längst legen­dä­re und viel zu früh auf­ge­lö­ste Slow-Rock-Grup­pe Mor­phi­ne, die die Jugend heut­zu­ta­ge natür­lich auch längst nicht mehr kennt. Das ist ärgerlich.

    Ben Hil­trop beschreibt’s so:

    Zwar bre­chen The Thing ger­ne in typi­sches Jazz-Gef­rickel aus und schei­nen unkon­trol­liert ihre Instru­men­te zu mal­trä­tie­ren, doch in den genau rich­ti­gen Momen­ten zügeln sie ihre Spiel­freu­de, um ihrer Front­frau wie­der ein ange­mes­se­nes Sound-Bett zu garan­tie­ren. (…) [D]ie Fusi­on aus einem Jazz-Grund­ge­rüst und der Atti­tü­de einer Bri­stol-Tri­pHop-Plat­te ist der­zeit einmalig.

    Die Kom­bi­na­ti­on aus dem rück­sichts­lo­sen Lärm, den The Thing seit jeher einem meist begei­ster­ten Publi­kum ser­vie­ren, und dem Avant-Pop und Trip-Hop, den Neneh Cher­ry außer­halb ihrer Charts­kar­rie­re übli­cher­wei­se ver­öf­fent­licht, ergibt eine ziem­lich ein­zig­ar­ti­ge Mischung. Dabei stört auch nicht, dass sechs der acht Stücke Cover­ver­sio­nen (dar­un­ter auch Gol­den Heart von Don Cher­ry) sind, denn die betei­lig­ten Musi­ker beschrän­ken sich nicht auf blo­ßes Nach­spie­len. „The Cher­ry Thing“ klingt wie aus einem Guss, der Cha­rak­ter der Musik von sowohl The Thing als auch Neneh Cher­ry prägt qua­si jeden Takt. So wenig ich auch von Jazz ver­ste­he: Im Jazz-Umfeld ist dies hier ein­deu­tig mei­ne Plat­te des Jah­res.

    „The Cher­ry Thing“. Das Kind in mir lacht sich kaputt.

    Hör­pro­ben:
    Ich bezweif­le, dass blo­ßes Anspie­len ein­zel­ner Stücke genügt, um die­sem Album gerecht zu wer­den. Wer’s denn unbe­dingt möch­te, der wird zum Bei­spiel auf Amazon.de fündig.

  11. Bar­be­ros – OOO

    „OOO“. Bis­wei­len auch „000“ genannt. Soso. Was kann bei so einem Titel schon schiefgehen?

    Den Musik­freund wird’s viel­leicht freu­en, dass „OOO“ – in einer Auf­la­ge von vor­erst 500 Exem­pla­ren – nur als Vinyl und Down­load ver­füg­bar ist. Das ist schön, mein CD-Schrank ist näm­lich bereits voll genug. Zeit, einen Vinyl­schrank zu kau­fen. Das Cover­bild soll­te man auch im Groß­for­mat gut fin­den kön­nen: Drei von Fern­roh­ren durch­sto­ße­ne Schä­del mit Wür­mern und ähn­li­chem Inhalt. Inter­es­sant. (Schä­del, immer­hin, sind hier nicht völ­lig ver­kehrt: Bar­be­ros sind in der spa­ni­schen Spra­che schlicht Friseure.)

    Betei­ligt sind dann auch exakt drei mir nament­lich unbe­kann­te Musi­ker, näm­lich zwei Schlag­zeu­ger und einer, der für diver­se Tasten­in­stru­men­te (Syn­the­si­zer, Key­boards und der­glei­chen) zustän­dig ist. Das Ergeb­nis ist inter­es­san­te (instru­men­ta­le) Poly­rhyth­mik. In ihrer Selbst­be­schrei­bung fin­den die Musi­ker ihr Büh­nen­spiel bei­na­he inter­es­san­ter als die eigent­li­che Musik:

    Bar­be­ros infu­se ele­ments of jazz, noi­se, dub, break­co­re and prog, framed in heart racing thea­trics using costu­me and pro­jec­tions to com­mu­ni­ca­te their joyful danceable musings to their ever widening audience.

    Das ist ziem­lich gut und ziem­lich schräg. Wer RIO/Avant mag, dem sei’s eben­so wärm­stens emp­foh­len wie denen, die „»“ von Beak> (sie­he oben) mögen; die elek­tro­ni­schen Spie­le­rei­en mit mono­to­nen Mustern (etwa in „Hot Squash“) sind sel­bi­gem recht ähn­lich, wenn­gleich wegen der zwei Schlag­zeu­ger deut­lich mehr rhythmusfixiert.

    Was trotz­dem ein biss­chen fehlt, ist Gesang. Der wür­de „OOO“ zwar zusätz­lich abrun­den, wei­gert sich jedoch par­tout, hier zu erschei­nen. Nichts­de­sto­we­ni­ger ist das joyful danceable musing aus­rei­chend pri­ma, um hier auf­ge­führt zu wer­den. Ich mache das hier ja nicht zum ersten Mal und behaup­te daher, dass das ein posi­ti­ves Qua­li­täts­kri­te­ri­um ist.

    Hör­pro­ben:
    „OOO“ gibt es zum Strea­men und Kau­fen per Band­camp als Komplettpaket.

  12. Sto­len Babies – Naught
    „All the things I think when I am weak are kil­ling me.“ (Swim­ming Hole)

    Apro­pos schräg; Auch die Sto­len Babies mel­den sich mit einem neu­en Album zurück.

    Seit ich im Jahr 2007 erst­mals über die­se Musik­grup­pe berich­te­te, war nur mehr wenig von ihnen zu hören. Das lan­ge ange­kün­dig­te zwei­te Album wur­de immer wie­der ver­scho­ben, es wur­den ledig­lich nach­ein­an­der die Lie­der Grub­be­ry und Splat­ter ver­öf­fent­licht. Das war schön, denn so konn­te man sehen, dass man noch mit den Sto­len Babies rech­nen konnte.

    Nun erschien also „Naught“. Es zu bekom­men erwies sich als trick­reich: Die Plat­ten­fir­ma lie­fert nicht nach Deutsch­land, Ama­zon hat den Lie­fer­ter­min nach Erschei­nen erst mal zwei Wochen nach hin­ten gescho­ben. Letzt­end­lich konn­te ich mit­tels heim­li­cher Kon­tak­tie­rung fin­ste­rer Gestal­ten (und über den Amazon-„Marktplatz“) doch noch schnell ein Exem­plar ergat­tern. Mein Fazit: Nun ja.

    Viel­leicht hat mich der Genuss aller­lei schrä­ger Musik in den letz­ten Jah­ren – etwa der oben erwähn­ten Sebkha-Chott – ein wenig taub gemacht für die eigent­li­che Radi­ka­li­tät der Musik auf „Naught“, viel­leicht ist der Oha-Effekt des Debüt­al­bums nach fünf Jah­ren auch ein­fach nur ver­flo­gen; vom Hocker haut mich das hier Dar­ge­bo­te­ne jeden­falls nicht.

    Das soll kei­nes­falls bedeu­ten, dass sel­bi­ges irgend­wie schlecht wäre. Die Sto­len Babies blei­ben sich treu und spie­len eine eigen­ar­ti­ge Mischung aus Thrash und Metal und Gothic und Zir­kus, dass es eigent­lich eine wah­re Freu­de ist. Front­frau und Akkor­deo­ni­stin Domi­ni­que Len­ore Per­si (mit dem Namen kann man eigent­lich kaum etwas ande­res wer­den als Künst­le­rin) trägt dazu ihre bekann­ten, mit­un­ter rasan­ten Wech­sel zwi­schen ver­füh­re­ri­schem Säu­seln und qua­si teuf­li­schem Schrei­en bei. Sta­gna­ti­on auf hohem Niveau sozu­sa­gen. Für Ohr­wür­mer ist jeden­falls auch wie­der gesorgt. Allein schon Splat­ter ist ziem­lich spit­ze und ver­bleibt für eine Wei­le im Gedächtnis.

    Bei­na­he under­state­ment zeigt das art­work dies­mal. Kei­ne Feu­er, kei­ne Mon­ster, kei­ne ren­nen­den Kin­der – „Naught“ wird ver­ziert von einer ruhi­gen Comic­land­schaft mit einem rosa Schaf. Klappt man das Album jedoch auf, ent­fal­tet sich eine ganz ande­re Landschaft:

    Inlay von "Naught"

    Das spielt ein­drucks­voll mit der Erwar­tungs­hal­tung des Hörers, der sich dann mit Tex­ten wie die­sem kon­fron­tiert sieht (Dried Moat): No one ever gets out­side wit­hout losing part of their life.

    Da ist sie wie­der, die Tim-Bur­ton-Atmo­sphä­re. Wer das Debüt­al­bum mag, der soll­te „Naught“ längst haben; wer bei­de Alben noch nicht kann­te, der soll­te das schleu­nigst nach­ho­len. Die Sto­len Babies sind eine die­ser Musik­grup­pen, die man ent­we­der mag oder nicht mag. Ich mag sie, und ihr soll­tet das auch tun.

    Hör­pro­ben:
    Als ich mit die­ser Rück­schau begann, gab es noch man­chen offi­zi­el­len Stream für „Naught“. Inzwi­schen ist Groo­veshark eine der weni­gen ver­blie­be­nen lega­len, ver­läss­li­chen Quellen.

  13. SH.TG.N

    Noch mal zurück zum guten, alten (bezie­hungs­wei­se in die­sem Fall neu­en) RIO/Avant. SH.TG.N (sprich wahr­schein­lich: Shot­gun, ergän­ze also: O/U) kom­men aus Bel­gi­en. Die sechs Musi­ker ver­eint gemäß eige­ner Aus­sa­ge eine Fas­zi­na­ti­on für Frank Zap­pa, Dil­lin­ger Escape Plan, Naked City und James Last. Unge­fähr so muss man sich das Debüt­al­bum – lässt man das selbst­pro­du­zier­te Live­al­bum von 2011 unbe­rück­sich­tigt – auch vor­stel­len. Hat es eigent­lich einen Namen, heißt es wie die Musik­grup­pe selbst? Das ist zumin­dest mir bis­her nicht ganz klar.

    Das Cover­bild ist bemer­kens­wert: Unter Bäu­men, an denen jemand Tie­re (eine Gans, einen Hasen und diver­se ande­re) auf­ge­hängt hat, tan­zen zwei (ver­mut­lich) Frau­en mit Toten­schä­deln anstel­le ihrer Köp­fe. Nein, fröh­li­chen, beschwing­ten Pop braucht hier schon mal kei­ner zu erwar­ten. Auf­fäl­lig ist auch die Beset­zungs­li­ste: Gitar­re, Bass, Schlag­zeug, Gesang und ein Vibra­phon wer­den auf­ge­führt. Dass das Vibra­phon ein Instru­ment ist, das bei all­zu frei­för­mi­ger Musik oft unter­geht, ist eine berech­tig­te Befürch­tung, die hier jedoch nicht not­wen­dig ist.

    Die Band selbst nennt ihren Stil „psy­cho­ti­schen zeit­ge­nös­si­schen pom­pö­sen Hea­vy Metal“. Der Pres­se­text wird etwas prä­zi­ser und umschreibt das Tun von SH.TG.N als Kon­zen­tra­ti­on der dunk­len, gewalt­sa­men Ener­gie des Metal mit den for­dern­den und auf­re­gen­den Struk­tu­ren zeit­ge­nös­si­scher Musik und der Frei­heit des Jazz. Jazz? Fin­de ich gut. Soll­te irgend­je­mand von euch, lie­be Leser, Jazz mit ödem Getrö­te (zum Bei­spiel Miles Davis) gleich­set­zen, dann hat er obi­ge Rezen­si­on zu „The Cher­ry Thing“ anschei­nend auch noch nicht gele­sen und soll­te sich von mir an die­ser Stel­le geschol­ten fühlen.

    Sän­ger Mikro­fon­be­die­ner Ful­co Otter­van­ger klingt gele­gent­lich (Came­ra Obscu­ra) nach Toby Hoff­mann (Ira!), gele­gent­lich auch nach einem die­ser heu­ti­gen Hard-Rock-Shou­ter (ist das über­haupt ein Wort?), und ver­sucht gar nicht erst, Wohl­klang zu erzeu­gen. Er schreit, kreischt und brüllt über die alles ande­re als grad­li­ni­ge Instru­men­tal­ba­sis ein­fach hin­weg, was inter­es­san­ter­wei­se nicht mal als unpas­send wahr­ge­nom­men wird. Je ver­track­ter die Musik, desto ver­track­ter die Vokal­akro­ba­tik. Hör­ba­re Ein­flüs­se? Jel­lo Biaf­ra, Frank Zap­pa, eine Schlä­ge­rei. „Es geht hier um alles ande­re als mas­sen­taug­li­che Musik“ schreibt „MP“ auf Rezensator.de wie zur War­nung. Aber ist die wirk­lich notwendig?

    Trotz all der Ver­wor­ren­heit hat das Album, wie auch immer es nun hei­ßen mag, den „Tipp des Monats Novem­ber 2012“ auf den aus­rei­chend renom­mier­ten Baby­blau­en Sei­ten errin­gen kön­nen. Die­sem Tipp möch­te ich mich vor­be­halt­los anschließen.

    Hör­pro­ben:
    Die Web­site der Bel­gi­er ist voll von sol­chen, nicht nur auf die­ses Album beschränkt. Man mache reich­lich Gebrauch davon.

  14. Toy

    Und noch ein Album, das eigent­lich kei­nen Titel hat. „Selbst­be­ti­tel­te“ Alben, also sol­che, die man­gels erkenn­ba­rem Titel ein­fach mal den Namen des Inter­pre­ten auf­ge­drückt bekom­men, sind ja gera­de in Mode. (Mit die­sem Unsinn ange­fan­gen haben mei­nes Wis­sens 60-er-Jah­re-Musi­ker wie die Beat­les mit ihrem „wei­ßen Album“, das nun mal schlicht kei­nen Namen hat; ich las­se mich übri­gens in jeden­falls die­sem Fall gern eines Bes­se­ren belehren.)

    Wo’s schon an Ober­fläch­lich­kei­ten fehlt, kommt der Inhalt um so bes­ser zur Gel­tung. Ziem­lich guten Indie-Rock mit New-Wave- und Noi­se­r­ock-Ein­flüs­sen spielt das bri­ti­sche Quin­tett Toy auf sei­nem Debüt­al­bum. Toy sind sozu­sa­gen Abtrün­ni­ge der im letz­ten Jahr­zehnt mehr oder weni­ger akti­ven Lon­do­ner Band Joe Lean and the Jing Jang Jong, aus deren ange­kün­dig­tem Album offen­bar nichts wur­de. Das haben Toy nun nach­ge­holt. Dabei wird das Andenken an ver­gan­ge­ne musi­ka­li­sche Hoch­zei­ten hoch gehal­ten; ein aktu­el­les Foto der fünf Her­ren weckt Erin­ne­run­gen. Und über­haupt: Die Achtziger.

    Bereits das erste Stück Colours Run­ning Out erin­nert unser­ei­nen an The Cure, The Smit­hs, The Raveo­net­tes und ähn­li­che Musik­grup­pen. Das klingt zwar wie schon mal irgend­wo gehört, aber kei­nes­falls schlecht. El Hunt vom Web­ma­ga­zin DIY schreibt:

    The spraw­ling post-rock of My Bloo­dy Valen­ti­ne is ever-pre­sent, hints of Cap­tain Beef­he­art and the avant-gar­de rock of Can too. It’s nigh on impos­si­ble to listen to this album, in fact, wit­hout count­less touch­stones sprin­ging to mind.

    Das soll auch nicht bedeu­ten, dass Toy kei­nen eige­nen Stil pfle­gen wür­den: Bereits das fol­gen­de The Rea­sons Why hat etwas von The Who und den Strokes (und die­sem bereits ange­deu­te­ten 80-er-Jah­re-Stil), klingt aber trotz­dem erfri­schend modern. Inter­es­sant sind die psy­che­de­li­schen, instru­men­ta­len Zwi­schen­spie­le etwa in Dead & Gone, die mich als einen beken­nen­den Anhän­ger schrä­gen Kraut­rocks ins­be­son­de­re davon ablen­ken, dass der Gesang eher so mit­tel ist, weil ihm eben die eigen­stän­di­ge Note fehlt. Die­se Ablen­kung ist gut, denn so ist das Album noch gut genug, um auf die­ser selbst­ver­ständ­lich unum­stöß­li­chen Liste zu lan­den. Genießt es!

    Hör­pro­ben:
    Momen­tan (Stand: 15. Dezem­ber 2012) ist das Album auf musicomh.com in vol­ler Län­ge zu hören.

  15. Bro­ken Water – Tempest

    Stür­mi­sche Zei­ten für Musik­lieb­ha­ber: Wie das neue Album von Bob Dylan heißt auch sel­bi­ges von den US-Ame­ri­ka­nern Bro­ken Water. Wäh­rend erste­rer, Herrn Dylans, Sturm jedoch eher ein lau­es Lüft­chen bleibt, gibt’s von letz­te­rem Trio stür­mi­schen Noi­se­pop um die Ohren.

    Bro­ken Water wer­den im Föje­tong nur all­zu gern mit Sonic Youth ver­gli­chen. Natür­lich, von Ver­glei­chen lebt der Musik­schrei­ber­ling. Natür­lich hört der geneig­te Musik­freund über­all, wo’s noi­sig schep­pert, „Goo“ her­aus, aber das ist nicht alles. Bei all der Lo-Fi-Ästhe­tik, die Bro­ken Water pfle­gen, sind sie näm­lich doch auch melo­di­ös und tat­säch­lich bei­na­he radio­taug­lich. So weit ist zum Bei­spiel Para­no­id nicht von den all­zu main­strea­mi­gen The Cure (in weni­ger jau­lig) ent­fernt, bezie­hungs­wei­se eben:

    Noi­si­ge Gitar­ren­wän­de tref­fen auf wüten­den Punk auf wun­der­voll pop­pi­ge Struk­tu­ren, und alles macht (sic!) zusam­men Sinn.

    Anders als bei den ande­ren Noi­se­pop­bands kommt hier auch mal ein Mann zu Wort; Jon Han­na, der ein­zi­ge Mann im Trio und neben Schlag­zeu­ge­rin Kana­ko Pook­nyw Grün­der von Bro­ken Water, über­nimmt in eini­gen Stücken den Gesang, in ande­ren ist eine der bei­den Frau­en (die zwei­te ist Bas­si­stin Abi­ga­il Ing­ram) zu hören. In jedem Fall steht er den rau­en Eska­pa­den der Instru­men­te bei­na­he als ruhi­ger Gegen­pol gegen­über, in River Under The River etwa erin­nert die beton­te Läs­sig­keit von Frau Ing­ram an die von Lou Reed in sei­nen jun­gen Jah­ren, der sich von auf­ge­türm­ten Gitar­ren-Feed­back­wän­den auch nicht aus der Ruhe brin­gen ließ. The Vel­vet Under­ground, ohne geht’s eben doch nicht.

    Das alles ist laut und lär­mend und ein­gän­gig und gut und soll­te unbe­dingt mal gehört wer­den. Das hier ist mehr als hei­ße Luft.

    Hör­pro­ben:
    30 Sekun­den genü­gen? Dann ist Amazon.de eine gute Quel­le für’s Reinhören.

  16. Pon­ti­ak – Echo Ono

    Die US-ame­ri­ka­ni­sche Psy­che­de­lic-Rock-Band Pon­ti­ak – nicht zu ver­wech­seln mit dem Otta­wa-Häupt­ling und/oder der Auto­mar­ke Pon­ti­ac – hat­te ich ganz ver­ges­sen, bis mir zufäl­lig ihr dies­jäh­ri­ges Album „Echo Ono“ unter­kam. Zu mei­ner per­sön­li­chen Freu­de hat es mit Yoko Ono so wenig zu tun, dass ich es direkt mal wei­ter­emp­feh­len möchte.

    Pon­ti­ak wur­den 2005 von drei Brü­dern gegrün­det, die bis heu­te zusam­men spie­len. Das ist ja durch­aus kei­ne Selbstverständlichkeit.

    Geplant wur­de „Echo Ono“ als expres­sio­ni­sti­sches Album. Die Musik soll­te nicht nur Far­ben malen, son­dern Far­ben sein. „Echo Ono“ stellt sozu­sa­gen ein Gemäl­de aus Musik dar. Wäh­rend die bis­he­ri­gen Alben eine lose Ansamm­lung von Lie­dern waren, die eine Moment­auf­nah­me der jewei­li­gen Zeit waren, wur­de „Echo Ono“ kon­se­quen­ter­wei­se erst­mals als voll­stän­di­ges Album kon­zi­piert. Tat­säch­lich ist das Zusam­men­spiel, das Inein­an­der­grei­fen der ein­zel­nen Stücke hier prä­sen­ter als gewohnt.

    Der Hörer wird begrüßt von Stoner-Rock-Gitar­ren­ge­wit­tern. Der Gesang ist ange­nehm, irgend­wo zwi­schen den Strokes und Man­do Diao anzu­sie­deln, also irgend­wie unschei­ße. Über die gan­ze Län­ge des Albums hin­weg spielt das Trio einen psy­che­de­li­schen, rhyth­mi­schen Indie-Rock, der sich wei­gert, einem Gen­re ein­deu­tig zuzu­ord­nen zu sein, was ich schon aus Prin­zip ziem­lich gut fin­de. Klei­ne­re Län­gen (etwa das für mich per­sön­lich völ­lig unin­ter­es­san­te The Expan­ding Sky, das irgend­wo zwi­schen Aer­os­mith und den spä­ten Pink Floyd her­um­irrt) fal­len nicht wei­ter ins Gewicht.

    Micha­el Bam­bas fasst zusam­men:

    „Echo Ono“ sprüht vor inspi­rier­ter und damit ein­her­ge­hend auch inspi­rie­ren­der Musik, in der zeit­lo­se Lei­den­schaft und Lebens­ge­fühl von unschätz­ba­rem Wert sind; in unge­fähr der­sel­ben Kate­go­rie wäre die­ses Klein­od einzuordnen.

    Etwa­ige Lan­ge­wei­le kommt gar nicht erst auf, da auch ruhi­ge Pas­sa­gen immer wie­der durch hef­ti­ge Stoner-Rock-Erup­tio­nen unter­bro­chen wer­den. Ein groß­ar­ti­ges Album, um Weih­nachts­märk­te oder ähn­li­che Ver­an­stal­tun­gen schad­los zu überstehen.

    Hör­pro­ben:
    Ent­täuscht muss ich den geneig­ten Leser dies­mal auf Amazon.com ver­wei­sen. Dort gibt es zumin­dest 30-sekün­di­ge Aus­schnit­te aus den Liedern.

Das war es eigent­lich schon. Aber ich hat­te ja ein­gangs etwas von einer neu­en Liste geschrie­ben. Ja, es gibt eini­ge gute Musikal­ben, die in die­sem Jahr ver­öf­fent­licht wur­den und über die ich nicht vie­le Wor­te ver­lie­ren kann oder möch­te. Nach der bis­he­ri­gen Vor­ge­hens­wei­se hät­te ich die­se ein­fach unter­schla­gen – das ist natür­lich nicht im Sin­ne die­ser Rück­schau­en. Also wid­me ich ihnen einen kom­plett eige­nen Abschnitt. Die ein­zi­ge Regel: Ein Absatz pro Album muss genügen.

2. Beach­tet auch dies!

  1. Gud­run Gut – Wildlife
    Gud­run Gut hat 1980 die Ein­stür­zen­den Neu­bau­ten mit­ge­grün­det, die sie kurz dar­auf wie­der ver­ließ, 1981 dann Mala­ria!, die irgend­was über kal­tes, kla­res Was­ser zum Besten gege­ben haben. „Wild­life“ – 31 bzw. 32 Jah­re spä­ter – klingt immer noch genau so: Elek­tro­ni­sches Geschep­per, Mini­ma­lis­mus, ein Tina-Tur­ner-Cover (Sim­ply The Best), Instru­men­ta­les, Besun­ge­nes. Wer die „Neu­bau­ten“ und/oder Faust mag, der möge hier mal rein­hö­ren.
  2. Kayo Dot – Gam­ma Knife
    Die Rück­kehr von maud­lin of the Well vor eini­gen Jah­ren blieb wohl lei­der auf das Album „part the Second“ (ich berich­te­te) beschränkt. Toby Dri­ver kon­zen­triert sich nun­mehr wie­der auf deren mehr oder weni­ger offi­zi­el­le Nach­fol­ge­band Kayo Dot. Vom behä­bi­gen Anfang mit bedroh­li­chen Glocken­klän­gen und Choral­ge­sang (Lethe) soll­te man sich nicht täu­schen las­sen: Es folgt ziem­lich expe­ri­men­tel­ler Doom-Metal-Avant-Indie-Pop­rock oder wie auch immer man das zu nen­nen beliebt. Die Kehr­sei­te? Das Album dau­ert nur eine hal­be Stun­de. Aber die ist kei­nes­falls ver­schwen­de­te Zeit.
  3. Peri­phery – Peri­phery II: This Time It’s Personal
    Peri­phery – nie gehört? Das Debüt von 2010 war eines der ersten her­aus­ra­gen­den Alben, die das Metal-Sub­gen­re Djent begrün­de­ten; Vor­rei­ter waren, glaubt man der eng­lisch­spra­chi­gen Wiki­pe­dia, die Schwe­den Mes­hug­gah. Angeb­lich beschwer­ten sich jedoch zu vie­le Hörer über den etwas zu ste­ri­len Klang, dem Peri­phery in der Fol­ge den Gar­aus gemacht haben. Die­ses Mal ist es etwas Per­sön­li­ches. In einem Begriff: Verfrickel­ter Brüll­me­tal. Ein Album für den Frei­tag­abend und das gan­ze Wochen­en­de hin­durch. Nur der Mon­tag wird einem dann missfallen.
  4. Alber­ta Cross – Songs of Patience
    „Alber­ta Cross“ ist angeb­lich als Ana­gramm von „Scab Real­tors“, „Kru­sten­mak­ler“, ent­stan­den. Das klingt ziem­lich blö­de und vor allem nach Metal. Ich bit­te die geneig­te Hörer­schar zu ent­schul­di­gen, dass trotz­dem kein Metal zu hören ist. Statt­des­sen: Viel Por­tu­gal. The Man, ein wenig Sigur Rós, ein wenig Red Hot Chi­li Pep­pers, viel zu sel­ten auch ein wenig … Trail of Dead. Her­aus­ra­gend und hörens­wert ist aus­nahms­wei­se auch der Gesang. Wer erwähn­te Musik­grup­pen mag, ist hier nicht völ­lig verkehrt.

„Aber… aber wer soll sich denn all die­se tol­le Musik lei­sten kön­nen?“ fragt ihr jetzt viel­leicht. Nun, kei­ne Sor­ge, auch an den klei­nen Geld­beu­tel (näm­lich mei­nen) wur­de gedacht; das Jahr 2012 brach­te auch so man­ches vor­züg­li­ches Musik­al­bum mit sich, das euch auch ohne so Tausch­bör­sen kei­nen Auf­preis abver­langt, unter ande­rem diese:

3. Saugt nun dies!

  • The Eche­lon Effect – Field Recordings

    The Eche­lon Effect sind in letz­ter Zeit häu­fi­ge Gäste in mei­nen Rück­schau­en, zuletzt im Dezem­ber 2011. Nach­dem alle vier Jah­res­zei­ten ihr/ eigene/n/s EP bekom­men haben, gibt es wie­der ein rich­ti­ges Album. Das geht immer schnell im Hau­se The Eche­lon Effect.

    Dies­mal ging es noch schnel­ler als geplant, denn die Ver­öf­fent­li­chung von „Field Recor­dings“ wur­de vor­ge­zo­gen, um die Ver­brei­tung von Boot­legs ein­zu­däm­men. Das Duo (Mul­ti­in­stru­men­ta­list Dave Wol­ters bekam beim Ein­spie­len der Schlag­zeug­spu­ren Unter­stüt­zung von Ste­ve Tan­ton) scheint inzwi­schen recht beliebt zu sein.

    Zu hören gibt es gewohnt gute ambi­en­te Elek­tronik­klän­ge, male­ri­sche Land­schaf­ten, kei­nen Gesang. Instru­men­ta­le sound­scapes ohne viel Drum­her­um. „Field Recor­dings“ ist Begleit­mu­sik für Tag­träu­me und lan­ge Winterabende.

    „This album is about fly­ing“ steht auf der Band­camp-Sei­te zum Album. Eigent­lich ist damit alles gesagt.

    Run­ter­ho­len:
    Auf Bandcamp.com gibt’s den kom­plet­ten Stream und eine Kauf­mög­lich­keit (ab 0 Euro), alter­na­tiv hilft das gute alte eMu­le weiter.

  • when wha­les col­l­i­de – By Default

    when wha­les col­l­i­de. Post­rock aus Kali­for­ni­en. Der Name passt so gut wie sonst nur wenig:

    Wenn Wale kol­li­die­ren, ganz es ganz schön kra­chen. Nach die­sem unglück­se­li­gen Sze­na­rio hat sich das Quar­tet When Wha­les Col­l­i­de aus San Die­go, Kali­for­ni­en benannt. Und sie las­sen es dem­entspre­chen ordent­lich schep­pern. Auf einem Fun­da­ment aus ambi­en­ten Post-Rock wer­den die Songs ziem­lich läs­sig mit Metal und Hard­core unter­füt­tert. Gesun­gen wird auch. Und das sehr ordentlich.

    Nach dem/der EP namens „.ep“ (Febru­ar) wur­de „By Default“ im Sep­tem­ber 2012 ver­öf­fent­licht. Fast 28 Minu­ten dau­ert der Spaß. Ist das schon ein Album? Egal. Ein­flüs­se gibt das Quar­tett nicht bekannt, ich tip­pe unter ande­rem auf Mog­wai und God Is An Astro­naut.

    Run­ter­ho­len:
    Per Band­camp kann man „By Default“ hören und (ab 0 Euro) kau­fen, auch auf phy­si­schem Ton­trä­ger mit hüb­schem Cover­bild, anson­sten hilft das Maul­tier weiter.

  • Rhún – Ïh

    Erst vor weni­gen Tagen, am 14. Dezem­ber 2012, erblick­te „Ïh“ das Licht der Welt. „Iiih“. Ach Quatsch. Der Buch­sta­be „Ï“ soll­te doch schon klar­ma­chen, wohin das Löf­fel­tier hop­pelt. „Ïh“ ist (natür­lich fran­zö­si­scher) Zeuhl, wie er sein muss. Mit etwas mehr als 21 Minu­ten Lauf­zeit liegt hier zwar mal wie­der „nur“ ein/e EP vor, aber das soll­te nicht stören.

    „Ïh“ ist dabei nach der 2009er Demo-CD „Fan­fa­re du Cha­os“ sozu­sa­gen das Debüt. Zwei Stücke von „Fan­fa­re du Cha­os“, näm­lich Toz und Dunb, wur­den hier neu (und bes­ser) auf­ge­nom­men, das drit­te (das lei­der nur kur­ze Kam­mer­rock-Stück Inter­lude) ist völ­lig neu. Kam­mer­rock? Für­wahr: Die übli­chen Bestand­tei­le des Zeuhl wer­den von Rhún mit­tels klas­si­scher Instru­men­te wie Flö­te und Oboe um eine inter­es­san­te Nuan­ce erwei­tert. Auf „Ïh“ sind ins­ge­samt neun sol­cher Instru­men­te, teil­wei­se ein­ge­spielt vom Ensem­ble Pan­ta­gru­lair, zu hören.

    Falls irgend­wer dach­te, Zeuhl müs­se immer wie die Gen­re­pio­nie­re Mag­ma klin­gen: Falsch gedacht.

    Run­ter­ho­len:
    Da Rhún aus uner­find­li­chem Grund noch eine Plat­ten­fir­ma zu feh­len scheint, gibt es „Ïh“ zur­zeit als Stream und frei­en Down­load in fast jedem gewünsch­ten For­mat auf Bandcamp.com sowie im FLAC- und MP3-For­mat per eMu­le. Stört mich nicht. Viel Vergnügen!

So weit zum Posi­ti­ven. Aber was wäre so ein Jahr ohne Musikal­ben, die die Pres­se unter „Muss man haben“ ein­sor­tiert, die dem geneig­ten Musik­freund aber allen­falls ein müdes Lächeln abzu­rin­gen vermögen?

4. Ver­ach­tet dies!

Davon gab es auch 2012 mehr als im Juni beschrie­ben, zum Bei­spiel die­se hier (wie gewohnt ohne all­zu vie­le Wor­te dar­über zu verlieren):

  • Gek­ko Pro­ject – Elec­tric Forest
    Trotz Ver­glei­chen mit Camel: Die guten Melo­dien wer­den in elek­tro­ni­schem Blub­bern ertränkt. Schade.
  • Sta­bat Aki­sh – Nebulos
    Der Beweis, dass Jazzrock/RIO auch schreck­lich lang­wei­lig sein kann.
  • The xx – Coexist
    Der Titel des Albums sagt es bereits: Belang­lo­ser Schön­geist­pop, der nie­man­dem wehtut.
  • Barock Pro­ject – Cof­fee In Neukölln
    Es ist bedau­er­lich, dass an sich gute Retro-Prog-Bands fast immer einen unauf­fäl­li­gen Durch­schnitts­sän­ger enga­gie­ren. Auch diese.
  • Bet­ween The Buried And Me – The Par­al­lax II: Future Sequence
    Queen, Spock’s Beard, The Beat­les, Metal mit lächer­lich wir­ken­dem Kli­schee-Grow­ling. Ein­zeln nett, aber zusam­men eigent­lich nur verwirrend.

Und sonst? Klar, die Rei­se in die Ver­gan­gen­heit steht noch an, 40 Jah­re zurück und was dann folg­te. Wie schnell sich die Musik­welt wan­delt, kann nur wenig bes­ser offen­ba­ren als ein Über­blick über musi­ka­li­sche Ent­wick­lun­gen im Schnelldurchlauf.

Begin­nen wir mit 1972:

5. Erin­nert euch an dies!

  • Vor 40 Jahren:
    Roxy Music – Roxy Music

    1972. Die Musik­welt hat schon schlim­me­re Jah­re erlebt. Das Hard-Rock-Quin­tett Bang eifer­te auf „Mother“ Black Sab­bath nach, Gent­le Giant ver­öf­fent­lich­ten in rascher Fol­ge „Three Fri­ends“ und das Weg wei­sen­de „Octo­pus“, das eine Viel­zahl an Musik­grup­pen nach­hal­tig beein­flus­sen soll­te. Kunst­leh­rer Bryan Fer­ry hat­te unter­des­sen bereits ein Jahr zuvor zusam­men mit Freun­den und Freun­des­freun­den (unter ande­rem Bri­an Eno) die Musik­grup­pe Roxy Music – eine Grup­pe namens Roxy gab es bereits – ins Leben geru­fen. Peter Sin­field, bis zum 1971 erschie­ne­nen „Islands“ für Tex­te, Pro­duk­ti­on und Beleuch­tung zustän­di­ges Mit­glied von King Crims­on, über­nahm die Rol­le des Pro­du­zen­ten für das Debüt­al­bum. Auf dem Cover­bild räkelt sich Model Kari-Ann Mull­er, die Roxy-Music-Tra­di­ti­on von anzüg­li­chen Plat­ten­co­vern wur­de damit also begrün­det. Bereits das eröff­nen­de „Re-Make/­Re-Model“ soll­te man mal gehört haben. Der Art­rock, den Roxy Music hier spie­len, ist bereits eine ziem­lich aus­ge­reif­te Vari­an­te des­sen, was die fol­gen­den Alben brin­gen soll­ten. Dass Bri­an Eno sich nach den Auf­nah­men zum zwei­ten Album von Roxy Music trenn­te und so Platz für den nicht min­der talen­tier­ten Eddie Job­son mach­te, ist den­noch bedau­er­lich, das Ergeb­nis der Zusam­men­ar­beit aber bleibt ein Stück Musikgeschichte.

  • Vor 30 Jahren:
    Maril­li­on – Mar­ket Squa­re Heroes

    Die musi­ka­li­schen Acht­zi­ger. Den Man­tel des Schwei­gens bit­te jetzt aus­brei­ten. Unter die­sem Man­tel darf gemüt­lich gemau­schelt wer­den. Außer der Neu­en Deut­schen Wel­le waren auch in Deutsch­land gele­gent­lich gute Musi­ker zuge­gen. An der Krautrock­band Grob­schnitt ging besag­te Wel­le lei­der nicht spur­los vor­über: Auf „Raz­zia“ wur­de kon­se­quent auf deut­sche Tex­te gesetzt, musi­ka­li­sche Ein­flüs­se von NDW und der zu die­sem Zeit­punkt eigent­lich bereits vor sich hin sie­chen­den Punk­mu­sik sind zu hören. Die Tex­te sind inter­es­sant („Wir wol­len ster­ben“), aber letz­ten Endes ver­zicht­bar. Nach „Raz­zia“ nahm Mit­grün­der, Schlag­zeu­ger und krea­ti­ver Grob­schnitt-Kopf Eroc kon­se­quen­ter­wei­se sei­nen Hut, was alles, was danach kam, nicht unbe­dingt ver­bes­ser­te. Auch die Han­no­ve­ra­ner Eloy befan­den sich noch mit­ten in ihrem Krea­ti­vi­täts­schub und lie­ßen „Time to Turn“ auf den Markt brin­gen, laut dem Inter­net die letz­te wirk­lich über­zeu­gen­de Eloy-Schei­be für lan­ge, lan­ge Zeit. Die bri­ti­sche Band Maril­li­on, die gera­de erst um Sän­ger Fish berei­chert wur­den, publi­zier­te der­weil ihre ersten Geh­ver­su­che mit der Sin­gle „Mar­ket Squa­re Heroes“, deren über 17-minü­ti­ge B‑Seite Gren­del ins­be­son­de­re die Vor­bil­der Gene­sis mit Peter Gabri­el her­vor­hob. Dass Maril­li­on das noch jun­ge Gen­re des „Neo-Prog“ ent­schei­dend prä­gen wür­den, war damals frei­lich noch nicht abzu­se­hen, das 1983 erschie­ne­ne Debüt­al­bum „Script for a Jester’s Tear“ eig­ne­te sich jedoch her­vor­ra­gend, um die­se Ver­mu­tung zu festigen.

  • Vor 20 Jahren:
    Äng­la­gård – Hybris

    Zumin­dest Yes haben die 1980-er Jah­re trotz grau­en­vol­ler radio­kom­pa­ti­bler Sin­gles wie Owner of a Lonely Heart weit­ge­hend schad­los über­stan­den. Nun, was heißt „schad­los“? Die DVD „Uni­on Tour Live“ zeigt eine heil­los zer­strit­te­ne Band, die auf Drän­gen der Plat­ten­fir­ma not­dürf­tig aus den bei­den exi­stie­ren­den und mit­ein­an­der kon­kur­rie­ren­den Grup­pen Yes und Ander­son, Bruford, Wak­e­man, Howe zusam­men­ge­klebt wur­de. Die­se For­ma­ti­on zer­brach dann auch bald, was durch­aus kein Ver­lust war. Bei Emer­son, Lake & Pal­mer sah es nicht bes­ser aus: Die Reuni­on im Jahr 1991 führ­te zu dem ein­falls­lo­sen, von AOR und Pop gepräg­ten Album „Black Moon“, auf das der geneig­te Musik­freund gut ver­zich­ten könn­te. Etwas bes­ser sah’s im Acid Jazz aus: Die bri­ti­sche For­ma­ti­on Cor­du­roy mach­te mit dem merk­wür­dig benann­ten, bei­na­he kom­plett instru­men­ta­len Debüt „Dad Man Cat“ posi­tiv auf sich auf­merk­sam. Ein ande­res Debüt­al­bum stammt aus Schwe­den: Die kurz­le­bi­gen Äng­la­gård – drei der Musi­ker waren damals erst 17 Jah­re alt – kom­bi­nier­ten auf ihrem Debüt­al­bum „Hybris“ Retro-Prog und Folk (inklu­si­ve Flö­te) mit einer eigen­stän­di­gen Note zu etwas, das nicht weni­ger als ein Mei­ster­werk ist. Gesun­gen wird auf Schwe­disch, die Stim­mun­gen errei­chen beein­drucken­de Tie­fen. Vier Stücke lang erschaf­fen die Schwe­den Retro-Wel­ten, wie sie schö­ner und schil­lern­der kaum sein könn­ten. Ein Album spä­ter lösten sich Äng­la­gård wie­der auf, hin­ter­lie­ßen noch einen Live-Mit­schnitt („Buried Ali­ve“) und kehr­ten etwa zehn Jah­re spä­ter auf die musi­ka­li­sche Büh­ne zurück. Ihr 2012 erschie­ne­nes spä­tes come­back-Album „Vil­jans Öga“ – lei­der inzwi­schen ohne Gesang – zeigt, dass die fünf bis heu­te nichts ver­lernt haben.

  • Vor 10 Jahren:
    echo­lyn – mei

    Abseits der pro­gres­si­ven Rock­mu­sik gab es im Jahr 2002 ein Auf­hor­chen: Mit­glie­der von Rage Against the Machi­ne schlos­sen sich mit Sound­gar­den-Sän­ger Chris Cor­nell zu Audio­slave zusam­men und knüpf­ten sti­li­stisch naht­los an bei­de „Vor­gän­ger­grup­pen“ an. Fünf Jah­re spä­ter war Schluss. Als zäher erwies sich die oben bereits lobend erwähn­te US-ame­ri­ka­ni­sche Pro­gres­si­ve-Rock-Band echo­lyn, die sich nach vier Jah­ren Tren­nung – Sony Music ver­wei­ger­te den Musi­kern die Unter­stüt­zung, wahr­schein­lich waren sie zu krea­tiv – im Jahr 2000 wie­der zusam­men­ge­fun­den hat­te. Kom­pro­mis­se moch­ten sie aber immer noch nicht. Im Jahr 2002 erschien mit „mei“ – Klein­buch­sta­ben sind eines ihrer Mar­ken­zei­chen – ihr fünf­tes Stu­dio­al­bum; oder soll­te man es eine „Lang­zeit-Sin­gle“ nen­nen? Tat­säch­lich ist genau ein Stück – eben mei – ent­hal­ten, das es auf 49:33 Minu­ten Spiel­zeit bringt. Den geneig­ten Musik­freund freut es, immer­hin ist es so nahe­zu unmög­lich, die ein­zel­nen Bestand­tei­le des Stückes sinn­voll zu einer „Best-of“-Zusammenstellung zusam­men­zu­kle­ben. Ich wage zu behaup­ten, „mei“ bleibt auch musi­ka­lisch von echo­lyn uner­reicht. Es han­delt sich (natür­lich) um ein Kon­zept­al­bum, auch text­lich: Der Prot­ago­nist, von der Lie­be ent­täuscht, irrt umher, ver­zwei­felt an sei­ner Situa­ti­on, beschließt, Held zu wer­den, wird dann doch kei­ner und kehrt in die Zivi­li­sa­ti­on zurück. So weit die Zusam­men­fas­sung. Musik: Kan­sas? Spock’s Beard? Sicher. Vor allem aber: echo­lyn. Dass echo­lyn beken­nen­de Anhän­ger von Gent­le Giant sind, wird sel­ten so deut­lich wie in den (viel zu kur­zen) drei­stim­mi­gen Pas­sa­gen („What have I done“ / „Here I am“ / „Live through me“) von „mei“, kur­ze Key­board-Momen­te klin­gen direkt wie von Gent­le Giant gelie­hen. Ver­packt wird es in einem ein­ma­li­gen Retro-Prog-Gewand, der Gesang vari­iert je nach Text­zei­le von Depres­si­on (The Cure) bis Zuver­sicht (U2), ohne jemals deplat­ziert zu wir­ken. Wie die Zeit ver­geht, bemerkt der Hörer nicht ein­mal. Eine Live­ver­si­on von mei wur­de 2003 auf dem Boot­leg „Jer­sey Toma­to vol. 2 (live at the Met­lar Bodi­ne Muse­um)“ ver­öf­fent­licht, inzwi­schen, da nicht mehr offi­zi­ell erhält­lich, ist die­ses Boot­leg aus­zugs­wei­se auf der Web­site der Band zu hören. Ohne „mei“ wäre der Retro-Prog ver­mut­lich viel ärmer. Zum Glück müs­sen wir uns das nicht vorstellen.

So weit von mir.

Habt ihr etwas gefun­den, was euch gefällt? Gibt es Kom­men­ta­re, Ergän­zun­gen, Beschimp­fun­gen? Ich hof­fe, letz­te­re blei­ben aus.

Ich wün­sche viel Spaß beim Hören und sage: Nichts zu danken!
Die näch­ste Rück­schau folgt, wenn bis dahin nicht die Welt unter­geht, im Juni 2013. Es wäre schön, wenn ihr dann wie­der dabei seid.

Bis dann.

Seri­en­na­vi­ga­ti­on« Musik 06/2012 – Favo­ri­ten und Ana­ly­seMusik 06/2013 – Favo­ri­ten und Analyse »

Senfecke:

  1. Und doch (zu dan­ken). Zusam­men mit UliU­lis Blog (Auf­ein­Neu­es) sind die­se Rück­schau­en unver­zicht­ba­re Kom­pen­di­en der Gutmusik.

  2. Ich: Nar­zist.
    Daher: Kon­trol­liert, war­um ich ver­dammt noch­mal kein Dan­ke­schön – … ähem.
    Pein­lich berührt, Selbstbeschimpfung.
    Ler­nen poper­n­en: Con­di­tio sine qua non für den Erhalt einer Ant­wort ist das Hin­ter­las­sen einer Antwortadresse.

    UliU­li beackert sozu­sa­gen die Galak­ti­sche East­side unse­rer Milch­stra­ße, ohne den Blues zu bekom­men (na, auch DEN deut­schen Raum­fahr­t­epos als Kind ver­schlun­gen und für immer immun gegen die­sen schnarch­lang­wei­li­gen Star-Wars-Quatsch gewor­den? Wenn nein: Öder Insi­der­scherz, egal). Daß ich jemals mit Freu­de Prog-Rock hören wür­de (Echo­lyn), unfaß­bar. Ande­rer­seits: Wie­der ein Stein für das Mau­er­werk des Elfen­bein­turms, na dan­ke auch (-;

  3. Oder häu­fi­ger mal hier rein­schau­en – spart die Adres­se und freut mei­ne Besu­cher­zah­len. Von denen ich halt auch nix habe, wenn kei­ner mei­nen Ama­zon-Links kauf­wil­lig folgt. Mist.

    Ich fin­de UliU­lis Musik­emp­feh­lun­gen beim Über­blicken inter­es­sant, da mir kom­plett unbe­kannt. Mal gucken, ob ich irgend­wann mal die Muße fin­de, rein­zu­hö­ren. Natür­lich: Gele­sen. Star Wars? Buh!

    Wenn dir echo­lyn gefällt, könn­te ich dir nun diver­se ande­re Anspiel­tipps geben. Aber dann kommst du zu nichts ande­rem mehr. Ich freue mich aber sehr, wenn mei­ne Tipps wenig­stens einem Men­schen Freu­de berei­ten konn­ten. Dann kommt mir mein eige­nes Tun nicht so sinn­los vor.

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