MusikkritikKaufbefehle
Musik 12/2017 – Favo­ri­ten und Analyse

Die­ser Arti­kel ist Teil 19 von 26 der Serie Jah­res­rück­blick

Ein selt­sa­mes Jahr 2017 ist fast zu Ende und hat in sei­ner zwei­ten Jah­res­hälf­te noch schnell ein paar ein­fluss­rei­che Musi­ker, dar­un­ter die Hälf­te von Can (Jaki Lie­be­zeit und Hol­ger Czu­kay), John Aber­crom­bie, Wal­ter Becker und Charles Man­son, den jeweils näch­sten Tag nicht mehr erle­ben las­sen. Zum Glück wach­sen immer wie­der neue Musi­ker nach, die sich auf alte Tugen­den besin­nen. Von eini­gen von ihnen soll heu­te anläss­lich des zwei­ten Teils der besten Musikal­ben 2017 die Rede sein.

Da der erste Teil merk­lich kür­zer als üblich gera­ten war, blieb für den zwei­ten natür­lich eine Men­ge Musik übrig. Vor­zei­tig befasst hat­te ich mich seit Juli bereits mit den aktu­el­len Alben von Ex Eye, OHHMS, Hundredth, Reflec­tions in Cos­mo, Igorrr, L’Ef­fon­dras und The Nar­co­tic Daf­fo­dils. Den­noch war das Jahr noch pro­duk­tiv genug für eine lan­ge Liste an noch unaus­ge­spro­che­nen Empfehlungen.

Näm­lich für diese:

1. Lang und breit.

  1. Brö­sel­ma­schi­ne – Indi­an Camel

    Bevor Hel­ge Schnei­der sich dem Kla­mauk, wie man heu­te so schön sagt, opfer­te, war die Pro­fes­si­on, mit dem ihn die Men­schen wohl am mei­sten ver­ban­den, die eini­ger­ma­ßen seriö­se Musik, für die er heu­te zu Unrecht ver­gleichs­wei­se wenig bekannt ist. In den 1970-er Jah­ren etwa spiel­te er in der schon nament­lich ziem­lich can­na­bi­sum­wölk­ten – im Wort­sin­ne – Krautrock­band Brö­sel­ma­schi­ne, zu der er spä­ter, zuletzt im Jahr 2005, gele­gent­lich wie­der zurückkehrte.

    Die Band Brö­sel­ma­schi­ne aus aus­ge­rech­net Duis­burg, aus deren Mit­te vor allem der Gitar­rist Peter Bursch, des­sen Lehr­bü­cher zwecks Erler­nens des Gitar­ren­spiels wohl eine gewis­se Bekannt­heit erlangt haben, sich immer mal wie­der auf aller­lei Büh­nen zu sehen ist, hat­te ihr vier­tes und bis dato letz­tes Stu­dio­al­bum „Grau­blau“ 1985 ver­öf­fent­licht, seit­dem gab es zwar noch man­che Kon­zer­te, jedoch kei­ne neu­en, all­ge­mein erhält­li­chen Stücke mehr. Mit „Indi­an Camel“ wur­de die­ser Umstand nun kor­ri­giert: 32 Jah­re nach dem Vor­gän­ger­al­bum hat sich eine sie­ben­köp­fi­ge Beset­zung, dar­un­ter die erst 2014 ein­ge­stie­ge­ne Sän­ge­rin Liz Blue, mit drei Gästen, zu denen auch Hel­ge Schnei­der am Saxo­phon statt, wie einst, als Orga­nist gehört, zusam­men­ge­fun­den, um einen ver­ton­ten Hasch­tag – nicht: hash­tag – auf­zu­neh­men, der die­se Rück­schau ange­nehm ent­spannt ein­lei­ten darf.

    Dass mit „Child­ren of the Revo­lu­ti­on“ ein Lied von T.Rex, mit denen Brö­sel­ma­schi­ne vor Jahr­zehn­ten bereits gemein­sam auf­ge­tre­ten waren, als Cover­ver­si­on auf „Indi­an Camel“ zu fin­den ist und bei der Gele­gen­heit als pri­ma Rock­mu­sik­stück auch beredt Zeug­nis über die Wand­lungs­fä­hig­keit der Grup­pe ablegt, ändert nichts an der Eigen­tüm­lich­keit, die „Indi­an Camel“ umgibt. Im Titel­stück wird wie auch an ande­rer Stel­le – pas­send zum Namen – Indi­sches mit Welt­mu­sik und Blues mit aku­sti­scher Gitar­re ver­bun­den. Irgend­wo im Web ist von einem „hyp­no­ti­schen Trip“ die Rede, von einer „Num­mer für die Geschichts­bü­cher“ gar, und ich mag ange­sichts man­cher klang­li­cher Grau­sam­keit des Jah­res 2017 da auch gar nicht widersprechen.

    Rein­hö­ren: Schnip­sel gibt es auf Amazon.de, den Rest auf TIDAL.

  2. Ulver – The Ass­as­si­na­ti­on of Juli­us Caesar
    „Sigh, my heart, but do not break“ (Coming Home)

    Über den alt­rö­mi­schen Feld- und Kriegs­herrn Juli­us Cäsar, anfangs bestechen­der, schließ­lich ersto­che­ner Herr­scher des Römi­schen Rei­ches kurz vor der sog. „Zei­ten­wen­de“, ist man­ches gesi­chert bekannt, man­ches jedoch roman­ti­sier­te Erfin­dung. Der Roman­ti­sie­rung sel­ten ver­däch­tigt wird das nor­we­gi­sche Sex­tett Ulver, das sei­nen anfäng­li­chen typisch skan­di­na­vi­schen Black Metal schon bald nach sei­ner Grün­dung diver­si­fi­zier­te. Sein dies­jäh­ri­ges Stu­dio­al­bum „The Ass­as­si­na­ti­on of Juli­us Cae­sar“, anders­wo als das „ein­zi­ge rele­van­te Depe­che-Mode-Album“ des Jah­res bezeich­net, schafft das Kunst­stück, gleich­zei­tig für Metal- und Pop-Blogs von Inter­es­se zu sein, wofür die Musik nicht ein­mal unbe­dingt etwas kann.

    Tat­säch­lich wird hier klang­lich tief in die New-/Dark-Wave-Kiste gegrif­fen. Den gezo­ge­nen Ver­gleich tei­le ich per­sön­lich nicht, denn wo Depe­che Mode zäh wabern, haben es Ulver mehr mit düste­rem Dröh­nen. In einer ein­fa­che­ren Welt wäre dies hier ver­mut­lich schlicht „elek­tro­ni­sche Tanz­mu­sik“, aber die­ses Eti­kett ist seit der Dis­co­wel­le untaug­lich gewor­den. Ich höre die jüng­ste, düster­ste Inkar­na­ti­on von Cripp­led Black Phoe­nix („So Falls The World“) eben­so wie – in den frei­för­mi­ge­ren Momen­ten – Faust und Neu! („Rol­ling Stone“). Text­lich ist die Zeit der Cäsa­ren nur ein Teil des Umfass­ten, es geht um man­cher­lei pro­mi­nen­ten Tod der ver­gan­ge­nen Jahr­zehn­te und Jahr­tau­sen­de, dar­un­ter auch die Mor­de der „Fami­ly“ des vor kur­zem ver­stor­be­nen Charles Man­son („1969“). Anspruch darf es ja immer auch noch sein.

    Natür­lich täuscht das nicht dar­über hin­weg, dass Ulver hier eine Kiste ent­stau­ben, die man meist lie­ber geschlos­sen lässt, näm­lich die der musi­ka­li­schen 80-er Jah­re, aber sie tun es mit Stil und ohne Käse­key­boards, was allein schon eine Erwäh­nung wert wäre; dass Ulver es ins­ge­samt schaf­fen, dass mir ein Album, des­sen Inhalt anders­wo schlicht als „Syn­thie-Pop“ beschrie­ben wird, gut gefällt, tut ein Übri­ges. Das Beste aller­dings bleibt, dass nicht abzu­se­hen ist, wie das Nach­fol­ge­al­bum klin­gen wird, denn Ulver blei­ben ungern ste­hen. Ich jeden­falls emp­feh­le ein kur­zes Inne­hal­ten zwecks Genus­ses die­ses Albums.

    Rein­hö­ren: Ulver strea­men auf Bandcamp.com, aber auch Amazon.de ermög­licht kur­zes Anhö­ren und Kauf.

  3. Gnod – Just Say No To The Psy­cho Right-Wing Capi­ta­list Fascist Indu­stri­al Death Machine

    Gele­gent­lich schlen­de­re ich durch Geschäf­te, die tat­säch­lich Filia­len besit­zen, also „off­line“ exi­stie­ren, und schaue dort die ein­schlä­gi­gen Vinyl­an­ge­bo­te an. Manch­mal begeg­ne ich inter­es­san­ten Neu­auf­la­gen sehr geschätz­ter Alt­wer­ke, sel­ten aber auch mir bis dahin völ­lig unbe­kann­te Alben, deren Auf­ma­chung allein mich neu­gie­rig macht. So ging es mir auch bei „Just Say No To The Psy­cho Right-Wing Capi­ta­list Fascist Indu­stri­al Death Machi­ne“ von Gnod: Wür­de das Ent­hal­te­ne wirk­lich so lie­bens­wür­dig schlecht sein wie es den Anschein hat?

    Über­ra­schend stellt sich her­aus: Das ist tat­säch­lich der Fall. Gnod – Debüt­al­bum: „Ing­nod­we­trust“, Spaß an der Sache brin­gen die Musi­ker also mit – ist eine bri­ti­sche Band, der trotz ihrer Selbst­be­schrei­bung als „Psych-Elec­tro­nic-Com­bo“ und ihrer Her­kunft von man­chen Rezen­sen­ten das Eti­kett „Kraut­rock“ ange­hef­tet wird, was über das Prin­zip der Eti­ket­tie­rung selbst man­ches aus­sagt. Musi­ka­lisch stecken außer Faust und Can hier näm­lich durch­aus ande­re Über­ra­schun­gen drin: Trotz beacht­li­chen Wort­reich­tums ist das Gebo­te­ne im Prin­zip pri­ma Postpunk.

    Man möge sich von die­ser schlich­ten Beschrei­bung nicht irre­lei­ten las­sen, denn Gnod, eine „Band unhei­li­ger Kako­pho­nie“ (Ben­ja­min Bland, „Drow­ned in Sound“) geben in der Tat mehr Musik preis als die Gen­re­kol­le­gen Sleaford Mods, deren kar­ges Tun regel­mä­ßi­gen Lesern bereits im Juli begeg­net sein könn­te, und machen auch vor einem Gen­re­über­griff in den Indu­stri­al­be­reich nicht Halt. The­ma­tisch wie musi­ka­lisch ist „Just Say No To The Psy­cho Right-Wing Capi­ta­list Fascist Indu­stri­al Death Machi­ne“ ein Album der tota­len Ver­wei­ge­rung, grif­fi­ge Mit­brüll-Pro­test­mu­sik ist hier nicht zu erwar­ten. Gnod begeg­nen ihrer feind­li­chen Umwelt statt­des­sen mit fünf teils lan­gen Stücken („Stick In the Wheel“ ist über 12 Minu­ten lang) in recht unter­schied­li­cher Manier: „Bodies For Money“ beginnt mit jau­len­der Gitar­re und klas­si­schem Gara­gen-Punk, geht dann über in einen bei­na­he jaz­zi­gen Mit­tel­teil, in dem der Refrain unge­dul­dig klin­gend gespro­chen wird, eska­liert schließ­lich aber anschwel­lend in ein fabel­haf­tes Instru­men­ten­spek­ta­kel. Wäh­rend das zehn­mi­nü­ti­ge „Peo­p­le“ auch mit sei­nem erneut total durch­dre­hen­den End­teil eher im New Art­rock zu Hau­se ist, bewe­gen sich „Paper Error“ und „Real Man“ augen­schein­lich im schlich­ten Punk­rock, fal­len aber auf den zwei­ten Blick bezie­hungs­wei­se Hör dadurch auf, dass die Band neben dem, was viel­leicht anders­wo Geschram­mel hie­ße, eher einen psy­che­de­lisch-repe­ti­ti­ven Hard­rock spielt, der in der Kli­schee­punk­knei­pe nicht ver­stan­den wür­de. Sän­ger Neil Fran­cis drängt sich nie­mals in den Vor­der­grund, was eine ange­neh­me Abwechs­lung zu manch ande­rer Brüll­punk­band, etwa aus Düs­sel­dorf, darstellt.

    „Stick In the Wheel“ schließ­lich ver­mengt vor allem in den ersten drei Minu­ten Post­punk mit Indu­stri­al, um dann plötz­lich einen instru­men­ta­len, „krau­ti­gen“ RIO/A­vant-Teil ein­zu­läu­ten, der so schnell ver­schwun­den wie gekom­men ist, um Platz für acht Minu­ten aus­ge­dehn­ten Elek­tro­jaz­zes zu machen, der (viel­leicht unbe­wusst) rhyth­misch Talk Talks ein­ma­li­ges „Desi­re“ eben­so zitiert wie latein­ame­ri­ka­ni­sche Tän­ze. Ein Stock im Rad der Gen­re­fe­ti­schi­sten? Mög­lich wär’s. Ein­fach „Nein“ sagen? Ich sage „Ja“ – jeden­falls zu Gnod.

    Rein­hö­ren: Stream und Kauf stellt die Band auf Bandcamp.com zur Ver­fü­gung, auf You­Tube kann man einen Aus­zug aus einem ihrer Live­auf­trit­te ansehen.

  4. Cir­cle – Terminal

    Die wuse­li­ge Grup­pe Cir­cle ist jeden­falls mir zuerst Ende 2011 begeg­net. Die umtrie­bi­ge fin­ni­sche Band über­rascht nach wie vor mit einer enor­men Ver­öf­fent­li­chungs­fre­quenz: Seit der Grün­dung im Jahr 1991 erschien eine Viel­zahl an EPs, Live- und Stu­dio­al­ben, man benann­te sich für die Dau­er eines Albums (näm­lich „Fron­tier“ von 2013) in Fal­con um und wie­der zurück. „Ter­mi­nal“ ist der erstaun­lich lan­ge erwar­te­te Nach­fol­ger des 2015 ver­öf­fent­lich­ten Albums „Pha­raoh Over­lord“ und nach kon­ser­va­ti­ver Schät­zung – also abzüg­lich des teil­wei­se aus älte­ren Sin­gles zusam­men­ge­setz­ten „Kol­lekt“ – das 31. Stu­dio­al­bum der Band.

    Momen­tan hat sie sie­ben Mit­glie­der, nach wie vor an Bord ist Grün­der, Bas­sist und Sän­ger Jus­si Leh­ti­sa­lo, der sich neben Cir­cle als Mit­glied oder wenig­stens Gast noch ver­schie­de­ne ande­re Bands (dar­un­ter die beacht­li­chen Kir­vas­to, Grumbling Fur und Ektro­ver­de) hielt oder noch hält. Ande­re zeit­ge­nös­si­sche Musi­ker brin­gen es nicht ein­mal auf eine ein­zi­ge, sind aber bekann­ter und belieb­ter. Krea­ti­vi­tät wird nicht mehr belohnt. Das ist scha­de für Cir­cle, denn so ent­geht ihnen eine Men­ge ver­dien­ter Aufmerksamkeit.

    Natür­lich gibt es auf „Ter­mi­nal“, man möge nicht von plötz­li­chem Iden­ti­täts­ver­lust aus­ge­hen, gewohn­te Cir­cle-Kost, näm­lich vor­züg­li­chen Stoner- und Spa­ce­rock, der auch dies­mal wie­der nicht klingt wie etwas, was man schon hun­dert­mal gehört hat. Inten­si­ve, hyp­no­tisch-repe­ti­ti­ve Rhyth­men mit eben­so inten­si­vem Gesang (und Geschrei) des unver­än­dert groß­ar­ti­gen Mika Rät­tö domi­nie­ren die knap­pe Drei­vier­tel­stun­de Lauf­zeit, durch­setzt mit span­nen­den Ein­fäl­len; in „Rak­ka­u­tta al den­te“ etwa scheint auch mal fol­ki­ger Mit­tel­al­ter­me­tal durch.

    Eigent­lich ist auf „Ter­mi­nal“ also alles wie immer – und es ist wie immer prima.

    Rein­hö­ren: Auf Amazon.de kann man in „Ter­mi­nal“ hin­ein- und es auf TIDAL voll­stän­dig hören.

  5. Bask – Ram­ble Beyond

    Wir wech­seln nun wie­der das Land und mit ihm den Kon­ti­nent: Aus Nord­ame­ri­ka, näm­lich North Caro­li­na, stammt das Quar­tett Bask, was auf Deutsch ent­we­der „Son­nen“ und „Aalen“ oder gar nichts bedeu­tet, weil das Über­set­zen von Eigen­na­men ja immer so eine Sache ist. Erfah­re­ne Sprach­be­nut­zer wis­sen, dass mit so Sachen bes­ser nicht leicht­fer­tig ver­fah­ren wer­den sollte.

    Auf „Ram­ble Bey­ond“ gibt es in sechs Stücken, natur­ge­mäß alle­samt nicht gera­de in Super­markt­ra­dio­for­mat, don­nern­de Musik zu hören, die weit­ge­hend als eini­ger­ma­ßen psy­che­de­li­scher Hard-/Sto­ner-Rock („unver­fälsch­ter Rock“ schreibt Nadi­ne Schmidt auf „Metal.de“) zu iden­ti­fi­zie­ren ist, wenn­gleich „The Lone­so­me Sound“ pas­sen­der­wei­se eher als aller­dings recht ener­gie­rei­cher Blues­rock durch­ge­hen mag. Ab Beginn („Asleep in the Orchard“) ver­neh­me ich erfreut, dass der Gesang hier nicht unnö­tig domi­nant gemischt ist, son­dern sich statt­des­sen sozu­sa­gen als stimm­li­che Lead­gi­tar­re in das Gesamt­kon­zept ein­fügt. Es herr­schen melo­die­freu­di­ge Gitar­ren­spie­le und Rhyth­mus, als sei­en Post- und Hard­rock eine Alli­anz ein­ge­gan­gen, die jeden­falls ich so reif und kan­ten­los auch noch nie wahr­ge­nom­men habe. Ich mag das.

    Andre­as Schiff­mann notier­te zu „Ram­ble Beyond“:

    „Ram­ble Bey­ond“ ist (…) ein in sich stim­mi­ges, nach­hal­ti­ges und epi­sches, vor allem aber sehr eigen­stän­di­ges Werk im Kon­text des andau­ern­den Vin­ta­ge-Rock-Trei­bens, irgend­wo zwi­schen Prog, Post und Welt­raum, falls das Sinn ergibt.

    Das kann ich so ste­hen lassen.

    Rein­hö­ren: Bandcamp.com stellt Stream und Kauf zur Verfügung.

  6. The Elec­tric Fami­ly – Ter­ra Circus

    The Elec­tric Fami­ly ist ein 1996 von Tom Redecker gegrün­de­tes kom­mu­n­en­ähn­li­ches – daher wohl der Name – Musik­pro­jekt, an dem sich immer mal wie­der ver­schie­de­ne Musi­ker aus unter­schied­lich­stem Umfeld, dar­un­ter die mitt­ler­wei­le ver­stor­be­nen Vol­ker „Mist“ Kahrs (Grob­schnitt) und Hagen Lie­bing (unter ande­rem Die Ärz­te), betei­ligt haben. „Ter­ra Cir­cus“ ist nach einer Ver­öf­fent­li­chungs­pau­se von etwa zehn Jah­ren das fünf­te Stu­dio­al­bum der Band, die neben ihren Eigen­kom­po­si­tio­nen auch gele­gent­lich Lie­der ande­rer Künst­ler neu ein­spie­len. Auf „Ter­ra Cir­cus“ sind es zwei – aber fan­gen wir vorn an.

    „Vorn“, das ist in die­sem Fall das eröff­nen­de „Movin‘ “, das ein­gän­gi­ger, aber sehr gefäl­li­ger Mit­wipp­blues­rock ist. Fast wäre es radio­taug­lich, wäre das Stück nicht dop­pelt so lang wie Radio­sen­der es heut­zu­ta­ge zulas­sen. Der Gesang wirkt auf mich etwas über­pa­the­tisch, aber dar­an soll es nicht schei­tern. Es folgt die erste Cover­ver­si­on: „Lucre­cia, My Reflec­tion“ ist genau das, wovon der musi­ka­lisch erfah­re­ne Leser sofort beim Lesen aus­geht, wenn auch mehr an Elvis Pres­ley oder dem Blues-/Coun­try-Rock von Bela B als an den Sisters of Mer­cy ori­en­tiert. Anders Becker ent­lockt der Elek­tro­nik man­ches Space-Zir­pen, ein aus­ge­dehn­tes Gitar­ren­so­lo bestimmt die zwei­te Hälf­te des Stücks.

    Auch „When Diz­zy­ness Comes Around“ lässt sich die Vor­lie­be der Musi­ker für Art­ver­wand­tes deut­lich anmer­ken: Vel­vet Under­grounds oft ver­ges­se­nes „Squeeze“, die Solo­al­ben von Bela B und die ersten zwei Alben von Roxy Music exi­stie­ren hier präch­tig neben­ein­an­der. Das fol­gen­de „Mary, Mary, so Con­tra­ry“ ist eben­falls eine Cover­ver­si­on eines Klas­si­kers, aller­dings eines noch älte­ren, denn das Ori­gi­nal erschien auf dem offi­zi­el­len Debüt­al­bum „Mon­ster Movie“ der Krautrock­pio­nie­re Can. Die ver­rück­te Psy­che­de­lik die­ses Ori­gi­nals weicht in der Ver­si­on von The Elec­tric Fami­ly einer som­mer­lich-leich­ten Stim­mung, was zum übri­gen Album frag­los gut passt. Eigen­stän­dig­keit geht eben auch mit Coverversionen.

    „Land­mark Visi­ons II“ ist sozu­sa­gen die Fort­set­zung von „Land­mark Visi­ons“ vom 2002 auf­ge­nom­me­nen „Ice Cream Phoe­nix“, dies­mal jedoch nicht ganz so lang. Die bei The Elec­tric Fami­ly all­ge­gen­wär­ti­ge Gitar­re soliert, lei­der nur sehr kurz, hier ange­nehm dis­har­mo­nisch. Apro­pos „sehr kurz“: „San­tua­rio“ ist ein nicht ein­mal drei Minu­ten lan­ges elek­tro­ni­sches Zwi­schen­spiel, das unge­fähr so klingt, wie man sich indi­sche Hou­se­mu­sik vor­stel­len wür­de, wenn man – wie der Schrei­ber die­ser Zei­len – Hou­se­mu­sik nicht so gut kennt. „Ter­ra Cir­cus“ endet schließ­lich mit „Name the Dre­am­boat“, das aber­mals schön unge­dul­di­ger Gitar­ren­blues­rock ist, aber sich eines Post­punk­ein­schlags nicht erweh­ren kann. Statt Gesangs wird hier gespro­chen – nicht die ein­zi­ge Gemein­sam­keit mit den unver­gleich­li­chen The Fall und allein schon ein Grund, in „Ter­ra Cir­cus“ ein­mal bewusst hineinzuhören.

    Rein­hö­ren: Und zwar ent­we­der auf Amazon.de oder auf TIDAL.

  7. The Hirsch Effekt – Eskapist
    „Lust­los, acht­los / fällt ihm denn nicht mal was Neu­es ein?“ (Xeno­pho­to­pia)

    Das bedau­er­li­cher­wei­se aus Han­no­ver stam­men­de Trio The Hirsch Effekt, für das sich bezahl­te Schreib­scher­gen irgend­wann ein­mal das Non­sens­gen­re „Art­co­re“ über­legt haben, hat mich mit jedem sei­ner ersten drei Alben in dop­pel­tem Sin­ne vom Stuhl gehau­en. Fein­sinn ist langweilig.

    Nach dem Abschluss der „Holon“-Trilogie im Jahr 2015 wei­ger­te sich die umbe­setz­te Grup­pe, sich völ­lig neu auf­zu­stel­len. War­um auch? „Eska­pist“, der Titel deu­tet es an, ist eine Flucht nach vorn, eine Ver­bin­dung zwi­schen den orche­stra­len Tei­len der ersten und dem wil­den Brett der letz­ten „Holon“-Platte. Die Titel sind so gewohnt kryp­tisch wie die Melo­dien, sur­rea­le Gra­fik ist zu sehen und zu hören.

    Es wird also dem Djent, dem tech­ni­schen Metal, dem Math-Wasauch­im­mer gefrönt. Gesang, Geschrei, Growls wech­seln ein­an­der ab, ohne unab­sicht­lich pein­lich zu sein. Die Stücke – auch das kennt man von frü­her gehen zum Teil inein­an­der über. Von den zwölf ent­hal­te­nen Klein­oden grei­fe ich ein­fach mal qua­si will­kür­lich sechs her­aus, die trotz­dem bei­spiel­haft für die gan­ze Band ste­hen: Da wäre „Xeno­pho­to­pia“, das text­lich und eben auch melo­disch immer noch an „Holon“ anknüpft; das 42 Sekun­den lan­ge Art­pop-Instru­men­tal „Coda“, das „Natans“ und „Ber­ce­u­se“ ver­bin­det; das fast zwei­mi­nü­ti­ge „Tar­di­gra­da“, das gegen Ende ver­mut­lich absicht­lich wie eine lei­ern­de Schall­plat­te klingt; das Strei­cher­stück „Noc­turne“, das als Ein­lei­tung „Alde­ba­ran“ vor­an­steht; das Art­rock­lied „Inu­ks­huk“ mit dann doch wie­der typisch bret­tern­dem Band­sound zum Ende; end­lich „Lys­i­os“, das 14:14 Minu­ten fein­sten Metals bie­tet, von den Musi­kern aller­dings mit stei­gen­der Lauf­zeit zu einem wah­ren RIO-Feu­er­werk hoch­ge­peitscht wird. Die Lust am Lärm ist eine rei­che, soll aber kei­nes­wegs ver­ber­gen, dass das „Eska­pist“ beherr­schen­de The­ma die Fas­sungs­lo­sig­keit über eine Gesell­schaft, die nur mehr exi­stiert statt lebt, ist: „War­um kommt es mir so vor, als ob die hal­be Welt ein­fach Scha­fe zählt?“ („Ber­ce­u­se“), was die rich­ti­ge Fra­ge zum immer­wäh­rend rich­ti­gen Zeit­punkt ist und bleibt.

    Zum Abschluss von „Eska­pist“ ver­blüf­fen The Hirsch Effekt noch­mals mit einer ihrer trotz­dem typisch dys­to­pi­schen Wun­der­lich­kei­ten, mit denen ihre Stu­dio­al­ben, stets als Gesamt­werk kon­zi­piert, meist enden: „Acha­rej“ ist eher im New Age als in der wil­den Gitar­ren­mu­sik zu Hau­se, der sau­ber, also unge­brüllt, into­nier­te Text ist genau das Erwar­te­te, was auch immer man erwar­tet, wenn man „Acha­rej“ liest, von The Hirsch Effekt aber bis­her nichts kann­te: „Kein Zurück mehr (…) ich bin der Ein­zi­ge hier.“ Ob der Nach­fol­ger von „Eska­pist“ wohl dar­an anknüp­fen wird?

    Die Vinyl­ver­si­on von „Eska­pist“ kommt mit einer CD-Bei­la­ge und auf­ge­druck­ten Tex­ten, was gleich zwei­mal prak­tisch ist: Man muss die LP nicht selbst digi­ta­li­sie­ren und kann, sofern man nicht gera­de in fei­ner Gesell­schaft ist, auch unge­straft mit­brül­len. Immer nur fili­gran zu sein ist nicht befreiend.

    Rein­hö­ren: Ange­mes­sen depri­mie­ren­de Vide­os zu „Lif­nej“, „Ber­ce­u­se und „Inu­ks­huk“ hat die Band selbst auf You­Tube zur Ver­fü­gung gestellt oder stel­len las­sen oder so.

  8. Katie Von Schlei­cher – Shit­ty Hits

    Katie Von Schlei­cher – mit Schmidt­chen Schlei­cher, bekannt aus der Folk­lo­re, ver­mut­lich weder ver­wandt noch ver­schwä­gert – ist eine jun­ge US-ame­ri­ka­ni­sche Künst­le­rin, die seit 2015 – ihr eigen­pro­du­zier­tes eigent­li­ches Debüt „Silent Days“ von 2012 ein­mal außer Acht gelas­sen – all­jähr­lich einen Ton­trä­ger befüllt mit dun­kel­ster Pop­mu­sik, von der „Spex“ etwas über­trie­ben „Rum­pel­kam­mer­pop“ genannt, ver­öf­fent­licht bezie­hungs­wei­se ver­öf­fent­li­chen lässt. Es mag die Echt­heit von „Shit­ty Hits“ augen­schein­lich beschä­di­gen, dass es, anders als sei­ne bei­den Vor­gän­ger, nicht (oder noch nicht) auf Audio­kas­set­te erhält­lich ist, denn eigent­lich ist so eine Kas­set­te für ein Album wie „Shit­ty Hits“ die idea­le Darreichungsform.

    Auf „Shit­ty Hits“ ist ent­ge­gen des Titels weder etwas schei­ße noch ein wirk­lich radio­taug­li­cher Hit, statt­des­sen wird über die Dau­er von elf Stücken eine drücken­de, aber doch inti­me Atmo­sphä­re auf­ge­baut, mal bedroh­lich knar­zend („Not­hing“), mal ver­letz­lich („Mary“); selbst das tat­säch­lich beat­les­que „Life’s a Lie“ – „Port­is­head tref­fen auf die Beat­les“ unter­ti­tel­te man beim „Guar­di­an“ die­ses Album und wur­de damit eigent­lich nie­man­dem gerecht – besitzt eine klang­li­che Sper­rig­keit, die mit Wor­ten zu beschrei­ben nicht eben eine ein­fach zu lösen­de Auf­ga­be ist. Zola Jesus – die hat­te ich hier schon mal – wür­de sich in mei­nem Kopf gern als Ver­gleich bewer­ben, also ver­wei­se ich erst ein­mal auf sie.

    Die Künst­le­rin fasst auf ihrer Band­camp-Sei­te die ent­hal­te­ne Musik der­zeit so zusammen:

    Die Lie­der sind schreck­lich und müs­sen par­tout so laut sein.

    Man kann sie aber auch lei­se hören.

    Rein­hö­ren: Naja, Band­camp halt.

  9. Nick Prol & The Pro­le­ta­ri­ans – Loon Attic

    Bei Nick Prol schrei­ben sich die Namens­wit­ze sozu­sa­gen von allein, des­we­gen macht er gleich selbst einen: Als selbst­be­nann­ter „Lärm­ma­cher“ steht er dem Quar­tett The Pro­le­ta­ri­ans vor, das neben ihm aus zwei Drit­teln des Expe­ri­men­tal-Rock-Tri­os The Mer­cury Tree (das drit­te Drit­tel, Oli­ver Camp­bell, ist auf „Loon Attic“ aller­dings als Gast zu hören) sowie Dave New­hou­se von den Muf­fins besteht. Er selbst, Nick Prol, hat wohl kein rei­ches Band­port­fo­lio vor­zu­wei­sen, das aber auch nicht nötig: „Loon Attic“ wur­de von ihm ursprüng­lich allein auf­ge­nom­men, die Pro­le­ta­ri­ans wur­den erst für die Neu­auf­nah­me zwecks Ver­öf­fent­li­chung ins Leben gerufen.

    Als Musik, die denen gefällt, die „Loon Attic“ mögen, emp­fiehlt Bandcamp.com außer den ver­mut­lich wenig über­ra­schen­den The Mer­cury Tree auch Bent Knee und Aqua­ser­ge. Ich selbst – beim Ver­such, die unglaub­lich viel­sei­ti­ge Musik auf „Loon Attic“ zu ord­nen – ent­decke Cheer-Acci­dent, Uto­pia­ni­sti, Pri­mus, Hen­ry Cow und Cara­van; will sagen: schlicht ist nicht. Jazz-Art­rock, Can­ter­bu­ry („8th Won­der“), Hard­rock („Name­l­ess“) und nicht auf blo­ßes Uff­ta­ta zu redu­zie­ren­de Zir­kus­mu­sik über­ra­schen in jedem Takt. Zu den wei­te­ren Gast­mu­si­kern auf „Loon Attic“ zäh­len unter ande­rem Dave Wil­ley (Ham­ster Theat­re, Thin­king Pla­gue), der in „8th Won­der“ diver­se Instru­men­te bedient, und Thym­me Jones (Cheer-Acci­dent; Schlag­zeug, Trom­pe­te und Moog in „Shi­ny and Round“), was dann auch wie­der groß­ar­tig passt.

    Was man an „Loon Attic“ offen­sicht­li­cher­wei­se kri­ti­sie­ren könn­te, wenn man das denn möch­te, ist, dass statt weni­ger umfang­rei­cher lie­ber vie­le kur­ze Stücke ent­hal­ten sind: Die ins­ge­samt 23 Lie­der sind mit nur zwei Aus­nah­men jeweils (oft deut­lich) unter vier Minu­ten lang. Umso erfri­schen­der ist es zu hören, was die Musi­ker aus der kur­zen Spiel­zeit her­aus­ho­len kön­nen. Das Ver­ständ­nis von Musik als Komik ist in den letz­ten Jahr­zehn­ten der Pro­fes­sio­na­li­sie­rung vie­ler Gen­res lei­der ein wenig abhan­den­ge­kom­men. Nick Prol trägt sei­nen Teil dazu bei, dass der Can­ter­bu­ry-Stil (cf. Matching Mole) mehr ist als eine blo­ße klang­li­che Ein­sor­tie­rung: „Loon Attic“ ist – im ein­fa­chen Wort­sin­ne – ein komi­sches Album. Prima!

    Rein­hö­ren: Anschei­nend wer­den Inter­es­sier­te der­zeit nur auf Bandcamp.com fündig.

  10. Black Coun­try Com­mu­ni­on – BCCIV
    „Some­ti­mes quick and some­ti­mes slow“ (The Crow)

    Zurück zu etwas erdi­ge­rer Musik.

    Von 2009 bis Anfang 2013 exi­stier­te eine Hard­rock­band namens Black Coun­try Com­mu­ni­on, die mit Glenn Hug­hes (vor­her bei Deep Pur­ple und Black Sab­bath), Jason Bon­ham (unter ande­rem bei UFO, For­eig­ner und Led Zep­pe­lin), Derek Sher­ini­an (Dream Thea­ter) und dem Blues­rock-Soli­sten Joe Bona­mas­sa das abge­nutz­te Eti­kett „Super­group“ trotz­dem nicht zu Unrecht trug. Nach­dem Black Coun­try Com­mu­ni­on sich infol­ge des Soloer­fol­ges von Joe Bona­mas­sa nach ihrem drit­ten Stu­dio­al­bum „After­glow“ vor­über­ge­hend getrennt hat­ten, das Nach­fol­ge­pro­jekt Cali­for­nia Breed jedoch schnell ein Ende gefun­den hat­te, dau­er­te es nur weni­ge Mona­te, bevor eine erneu­te Zusam­men­ar­beit der vier Musi­ker für das Jahr 2017 bekannt gege­ben wur­de. Das Ergeb­nis heißt schlicht „BCCIV“ (über den Namen müs­sen hier kei­ne wei­te­ren Wor­te fal­len) und ist ein Hören durch­aus wert.

    Dass die Betei­lig­ten sich das Recht auf eine Insze­nie­rung als das, was man im Schnod­der­rock „Poser“ nennt, längst ver­dient haben, wis­sen sie und las­sen die­ser Insze­nie­rung mit gro­ßen, aus­la­den­den musi­ka­li­schen Gesten („The Cove“) frei­en Lauf. Der Blues- und Folk-Anteil ist gering, kra­chen­der Hard­rock („Sway“) über­wiegt. Das soll natür­lich nicht hei­ßen, dass Joe Bona­mas­sa nicht an den Lie­dern mit­ge­wirkt hät­te: In sei­nem pas­send beti­tel­ten „The Last Song for My Rest­ing Place“, das so klingt, wie es heißt, ist sogar eine Fidd­le zu hören. Der Mann ver­steht sein Hand­werk und bleibt prä­gnant: „BCCIV“ ist mehr Deep Pur­ple als AC/DC und das ist, wie ich ein­fach mal anneh­men möch­te, auch sein Verdienst.

    „BCCIV“ ist ein erfreu­li­ches Album, die Wie­der­kehr von Black Coun­try Com­mu­ni­on erfolg­te ohne erkenn­ba­ren Qua­li­täts­ver­lust. War­um ande­re zeit­ge­nös­si­sche Musik­grup­pen das nicht auch schaf­fen, weiß ich nicht. Ich könn­te mich dar­über geson­dert auf­re­gen, aber ich habe mir fest vor­ge­nom­men, über Musikal­ben, die nicht gut sind, im hier gege­be­nen Rah­men kei­ne wei­te­ren Zei­len zu ver­schwen­den, wes­halb ich das jetzt auch ein­fach las­se. Kei­nes­wegs las­sen soll­te jedoch jeder Leser ein Rein­hö­ren in „BCCIV“.

    Rein­hö­ren: Wer TIDAL-Abon­nent ist, der wird dort fün­dig, anson­sten gibt es Amazon.de.

  11. Boris – Dear
    „Nobo­dy wants to pick up that nost­al­gia“ (Memen­to Mori)

    Boris sind zurück und tra­gen ihre Dro­nes aus limi­tier­ten Kleinst­auf­la­gen (sie­he „asia“) mit ihrem erst 22. Stu­dio­al­bum „Dear“ wie­der in die Mas­se, sofern man bei der Ziel­grup­pe, die hier bedient wird, über­haupt von „Mas­se“ spre­chen soll­te und nicht von Klasse.

    Von Zugäng­lich­keit kann wei­ter­hin kei­ne Rede sein, das über­las­sen die drei Japa­ner dann doch ihren Alter Egos, die gele­gent­lich zumin­dest gefäl­li­ge Stan­dard-Rock­al­ben ver­öf­fent­li­chen. Beim Hören von „Dear“ der­weil füh­le ich mich immer wie­der an das hörens­wer­te „Sou­sed“ von Sunn O))) erin­nert, denn hier tref­fen Gitar­ren­erd­wäl­le auf ent­rück­ten, wenn auch merk­lich weni­ger exal­tier­ten Gesang als ihn Scott Wal­ker auf vor­ge­nann­ter Schei­be zum Besten gab: mal geflü­stert, mal geru­fen, aber immer hal­lend, denn Hall ist gut.

    Kei­ne Zeit zum Aus­ru­hen: Es bro­delt, pol­tert und dröhnt, von irgend­wo zer­reißt ein Schlag­zeug die Augen­blicke. Rock­mu­sik? Unsinn: „DEADSONG“ ist ein Lied, aber was für eines! Wie ein auf hal­ber Geschwin­dig­keit abge­spiel­tes, lei­ern­des Ton­band, das absicht­lich neu ein­ge­spielt wur­de, ist die­ses Stück ange­nehm ver­wir­rend. Mit dem unver­mit­telt ein­set­zen­den „Abso­lut­ego“ wird das Ohr des­je­ni­gen, der weni­ger Expe­ri­men­te gewohnt ist, mit einer doch recht gut abge­hen­den Fas­sung einer Len­ny-Kra­vitz-trifft-Ramm­stein-Fik­ti­on (im Inter­net wer­den Ali­ce in Chains genannt und damit hat das Inter­net völ­lig recht) vor­über­ge­hend zurück­ge­won­nen, bis es schließ­lich merk­lich an Geschwin­dig­keit ver­liert und in Schrei­en über schlep­pen­dem Rhyth­mus aus­klingt. Die Abwechs­lung zwi­schen Brum­men mit Gesang (groß­ar­tig auch: „Kage­ro“), Art- („Bio­to­pe“) und avant­gar­de­s­quem Noi­se­r­ock wirkt dabei nicht ein­mal zer­ris­sen, son­dern um so stimmiger.

    „Easy Listening“? Bei Lied­län­gen zwi­schen vier­drei­vier­tel („Memen­to Mori“) und fast 12 („Dys­to­pia – Vanis­hing Point“) Minu­ten ist davon nicht aus­zu­ge­hen. Wo Boris drauf­steht, ist, par­don!, Boris meist auch drin – auch 2017 wirkt das noch bes­ser als jedes Qua­li­täts­sie­gel; jeden­falls, so lan­ge es das Qua­li­täts­sie­gel „ohne Phil Coll­ins“ noch nicht gibt. Ein durch­weg schlech­tes Album von Boris exi­stiert nicht. Isso.

    Rein­hö­ren: Wer bis hier­hin durch­ge­hal­ten hat, der ahnt, was kommt – ein Link zu TIDAL und ein Link zu Amazon.de nämlich.

  12. Luna­tic Soul – Fractured
    „And the bro­ken hearts will not break through my mind“ (Batt­le­field)

    Wenn schlech­te Musi­ker nicht aus­ge­la­stet sind, wei­hen sie Möbel­häu­ser ein oder fan­gen die Schau­spie­le­rei an. Wenn hin­ge­gen gute Musi­ker nicht aus­ge­la­stet sind, rufen sie neue Musik­pro­jek­te ins Leben. Mari­usz Duda, Sän­ger und Bas­sist der pol­ni­schen Pro­gres­si­ve-Rock-Band River­si­de, die erst 2016 das selt­sa­me Album „Eye of the Sound­scape“ ver­öf­fent­licht hat, gehört zwei­fel­los letz­te­rer Grup­pe an. Sein haupt­säch­li­ches Neben­pro­jekt heißt Luna­tic Soul.

    Falls man annimmt, dass nicht alles, was so Musi­ker tun, in einer frei erfun­de­nen Gedan­ken­welt statt­fin­det, so ist Luna­tic Soul ein wesent­lich inti­me­res Pro­jekt als River­si­de. Dass letz­te­rer Band 2016 der Gitar­rist Piotr Grud­ziń­ski eben­so wie in den Jah­ren zuvor diver­se Men­schen aus Mari­usz Dudas Umfeld mit­tels Ster­bens abhan­den­ge­kom­men war, ist laut ver­schie­de­nen Inter­views einer der Grün­de, war­um das Kon­zept­al­bum „Frac­tu­red“, das, pas­send zum Titel, größ­ten­teils ziem­lich zer­brech­lich („Any­mo­re“) klingt, so eine nach­denk­li­che Stim­mung verbreitet.

    Die Ohren – die See­le sowie­so – wer­den auf „Frac­tu­red“ mit einem merk­wür­di­gen Jazz-Elek­tro-Dance-Rock, der Musik­hö­rer, die schon etwas län­ger dabei sind, an die frü­hen 1990er Jah­re erin­nert, kon­fron­tiert, der oft nach The Notwist und Depe­che Mode, manch­mal (etwa im Titel­stück) auch nach Eloy klingt. Als Quint­essenz des Albums aber mache ich „A Thou­sand Shards of Hea­ven“ aus, das nicht nur mit trau­ri­gen Strei­chern, son­dern auch mit einem Text über­zeugt, der schon beim Lesen Fra­gi­les zeigt:

    You can say that I am yearning
    for some­thing that’s alre­a­dy gone
    but I am not a prisoner

    Uff.

    Rein­hö­ren: War­um nicht mal Amazon.de oder TIDAL? Zum ganz guten „Any­mo­re“ (You­Tube), zum Titel­stück und zu „Moving On“ (You­Tube) gibt es im Übri­gen auch offi­zi­ell schei­nen­de Musikvideos.

  13. The Dream Syn­di­ca­te – How Did I Find Mys­elf Here?

    Im Jahr 1963 grün­de­te der US-ame­ri­ka­ni­sche Kom­po­nist und Musi­ker La Mon­te Young das Theat­re of Eter­nal Music, ein Kol­lek­tiv zur Umset­zung mini­ma­li­sti­scher Kom­po­si­tio­nen, in deren Fokus Dro­nes stan­den. Zu den frü­hen Mit­glie­dern des Ensem­bles gehör­ten die spä­te­ren Vel­vet-Under­ground-Musi­ker John Cale, Angus MacLi­se und Ster­ling Mor­ri­son eben­so wie Ter­ry Riley. Das Theat­re of Eter­nal Music löste sich erst 2003 auf, war bis dahin aber längst auch unter dem Namen The Dream Syn­di­ca­te bekannt gewor­den, was ver­mut­lich mit der Serie von frü­hen Musik­auf­nah­men namens „Insi­de the Dream Syn­di­ca­te“ zu tun hat.

    1981 stell­te der auf­stre­ben­de Gitar­rist Ste­ve Wynn gemein­sam mit sei­ner dama­li­gen musi­ka­li­schen Weg­ge­fähr­tin Ken­dra Smith eine Band zusam­men, die sich infol­ge einer Anre­gung des Schlag­zeu­gers Den­nis Duck eben The Dream Syn­di­ca­te nann­te. Das ist in so Tausch­bör­sen manch­mal etwas ver­wir­rend: John Cale spielt hier nicht mit. Bas­si­stin Ken­dra Smith sang auf dem hör­bar von Neil Young und natür­lich The Vel­vet Under­ground beein­fluss­ten Debüt­al­bum, mit dem The Dream Syn­di­ca­te den „Pais­ley Under­ground“, eine Art musi­ka­li­scher Sze­ne in Los Ange­les, die den Psy­che­de­lic Rock, den Pop und vor allem die Vel­vet Under­ground der 1960er Jah­re kul­tisch ver­ehr­te, sozu­sa­gen unab­sicht­lich aus der Tau­fe hoben, das famo­se „Too Litt­le, Too Late“ und ver­ließ die Band bereits 1983, der Rest der Grup­pe blieb nach Per­so­nal­wech­sel bis 1989 aktiv, um dann 2012 von Ste­ve Wynn wie­der ins Leben geru­fen zu wer­den. Aus der letz­ten Beset­zung von 1989 übrig geblie­ben sind neben ihm Den­nis Duck und der 1984 ein­ge­stie­ge­ne Bas­sist Mark Walt­on, neu hin­zu­ge­kom­men ist Gitar­rist Jason Vic­tor.

    Im Febru­ar 2017 wur­de das erste neue Stu­dio­al­bum von The Dream Syn­di­ca­te seit 1988 ange­kün­digt, es erschien schließ­lich im Sep­tem­ber unter dem Namen „How Did I Find Mys­elf Here?“. Ver­lernt haben sie nichts, das Quar­tett schafft es noch immer, die Musik von damals nicht nur zu kon­ser­vie­ren, son­dern auf­zu­be­rei­ten: Die spä­ten The Vel­vet Under­ground, spä­ter bekannt­lich vor­züg­lich imi­tiert von den Dan­dy War­hols, stan­den hier hör­bar Pate, im Titel­stück klingt auch mal Pink Floyd an. Im Okto­ber kür­te ich das Lied „80 West“ zur Mon­tags­mu­sik und hat­te mir dabei schon etwas gedacht, denn des­sen Kon­trast zwi­schen bass­ge­trie­ben schep­pern­dem Indie­rock und den guten, alten Dro­nes bringt „How Did I Find Mys­elf Here?“ kom­pri­miert auf den Punkt. „Like Mary“ ist tat­säch­lich noch älter, es ent­sprang frü­hen Band­pro­ben und wur­de erst nach über 30 Jah­ren für die­ses Album erst­mals offi­zi­ell aufgenommen.

    Heim­lich ist auch Ken­dra Smith wie­der zurück: Das letz­te Lied „Kendra’s Dream“ wur­de nicht nur von ihr (laut Inter­net als Bewusst­seins­strom) ver­fasst, son­dern wird auch von ihr vor­ge­tra­gen. Dass mich das Lied in der ersten Hälf­te auf­fal­lend an „All Tomorrow’s Par­ties“ erin­nert, mag zum Teil an Ken­dra Smit­hs tie­fer gewor­de­ner Stim­me lie­gen, vor allem aber wahr­schein­lich an der musi­ka­li­schen Dar­bie­tung selbst, die nach einem ziem­lich rocki­gen Album noch trip­pi­ger, noch mehr am Funk ori­en­tiert ist.

    Ich habe „How Did I Find Mys­elf Here?“ einem Här­te­test unter­zo­gen, indem ich es aus­ge­rech­net auf dem Weg nach Han­no­ver erst­mals hör­te. Ich hat­te beim Aus­stei­gen immer noch gute Lau­ne, das Album hat den Test also bestan­den. End­lich mal wie­der ein wür­di­ger Ver­tre­ter für mein bevor­zug­tes Topal­ben­at­tri­but „Gei­le Schei­be“ und even­tu­ell durch­aus mein Album des Jah­res 2017.

    Rein­hö­ren: Die Plat­ten­fir­ma selbst hat sämt­li­che Stücke des Albums auf You­Tube hoch­ge­la­den, wor­aus ich fol­ge­re, dass es dort kom­plett zu hören emp­foh­len ist.

  14. Ping­vinor­ke­stern – Look – no hands!
    „Clo­se / clo­se / clo­se the door!“ (Hap­py)

    Auch beim Ping­vinor­ke­stern haben wir es – das ist tat­säch­lich nur Zufall, schschwör – mit einer Band zu tun, die sich zumin­dest gering­fü­gig mit der Moder­ni­sie­rung alter Mei­ster befasst: Das im Inter­net als „exzen­trisch“ bekann­te Pen­gu­in Cafe Orche­stra, das ursprüng­lich von 1972 bis 1997 exi­stier­te und sich nach dem Tod ihres Grün­ders Simon Jef­fes in ver­schie­de­nen Beset­zun­gen ver­schie­de­ne Namen gab, inspi­rier­te das per­so­nell unab­hän­gi­ge schwe­di­sche Quin­tett zu sei­nem Namen.

    An der Beset­zung fällt auf, dass alle fünf Musi­ker sowohl slag­verk als auch uku­le­le spie­len. Pop­mu­sik sieht zum Glück ganz anders aus. Laut Selbst­be­schrei­bung spielt das Ping­vinor­ke­stern „pop­ori­en­tier­te post­mo­der­ne Kam­mer­mu­sik mit humo­ri­sti­schen Unter­tö­nen“, was sich irgend­wie nach dem Ori­gi­nal anhört, aber die­se Band hier ist anders, erin­nert sie mich doch viel mehr an die glo­rio­se Kam­mer­rock­band broken.heart.collector. Man möge aller­dings auch hier dar­auf ver­zich­ten, mit dem Gen­reeti­ket­ten­drucker unvor­sich­tig zu han­tie­ren: Abwechs­lung muss sein!

    Dem Pen­gu­in Cafe Orche­stra nicht unähn­lich sind immer­hin das Titel­stück und „Sto­ra moer­dar­backen“, was immer das hei­ßen mag: RIO und instru­men­ta­le Klez­mer­mu­sik fin­den hier wie selbst­ver­ständ­lich zuein­an­der. Bei „Stay“, „Free Fall“ und „Save Me“ han­delt es sich um beacht­li­chen Art­pop mit Gesang, wobei ins­be­son­de­re letz­te­res Stück mit nach mei­nem unmaß­geb­li­chen Geschmack wun­der­schö­nem Chor­ge­sang über­zeugt. Am kraft­vol­len und sti­li­stisch über­ra­schen­den Rock­stück „Hap­py“ kann ich nur kri­ti­sie­ren, dass es mit unter zwei Minu­ten deut­lich zu kurz ist.

    Folk- und Coun­try­freun­de wer­den womög­lich mit „Walk Slow­ly“ und „Honk“ höchst zufrie­den sein, unser­eins kommt zu einem ande­ren Zeit­punkt wie­der her­ein: „If You’­re a Drea­mer, Come In“ klingt mal wie­der so, wie es heißt: Die Band baut mit reich­lich Per­kus­si­on eine psy­che­de­li­sche, nahe­zu pink­floydes­que Wun­der­welt auf, aus der man am Ende mit einem Tür­klin­geln auf­ge­schreckt wird. Humor? Oh ja.

    Rein­hö­ren: Stream und Kauf gibt es via Bandcamp.com.

  15. Cobra Fami­ly Pic­nic – Magne­tic Anomaly

    Ein Album wie eine Mond­lan­dung, das sich in die Rei­he der Musikal­ben, die so hei­ßen, wie sie klin­gen, ganz gut ein­reiht, haben die fünf­ein­halb US-Ame­ri­ka­ner von Cobra Fami­ly Pic­nic im Mai 2017 her­vor­ge­bracht. Groo­ven­der, in den 1960er Jah­ren wur­zeln­der Spa­ce­rock mit elek­tro­ni­schem Flir­ren, schwe­ben­dem Gesang und hyp­no­ti­schem Bass, irgend­wo nahe Hawk­wind einer- und Baby Woo­d­ro­se ande­rer­seits ange­sie­delt, bestimmt die 38 bezie­hungs­wei­se (in der aus unkla­rem Grund etwas län­ge­ren CD-Fas­sung) 47 Minuten.

    „Magne­tic Anoma­ly“ ist aller­dings auch ein Album der Gegen­sät­ze, was den drei Zwi­schen­spie­len namens „Inter­pla­ne­ta­ry Tra­vel“, die wohl eine Art Rah­men­hand­lung dar­stel­len sol­len, geschul­det ist, die, wie der ver­sier­te Mathe­ma­ti­ker und/oder Infor­ma­ti­ker weiß, fälsch­lich als „001“, „011“ und „111“ num­me­riert sind und ver­schie­den schwe­re Klang­land­schaf­ten abbil­den. In „Inter­pla­ne­ta­ry Tra­vel 011“ ertönt sogar Vogel­ge­zwit­scher, was im Welt­raum gleich mehr­fach merk­wür­dig ist. Der Gesamt­qua­li­tät von „Magne­tic Anoma­ly“ scha­det die­se rüde Unter­bre­chung jedoch nur geringfügig.

    Der Schrei­ber die­ser Zei­len jeden­falls ver­brach­te die 47 Minu­ten Spiel­zeit von „Magne­tic Anoma­ly“ völ­lig los­ge­löst von der Erde und emp­fiehlt, den nun ent­stan­de­nen Ohr­wurm schnellst­mög­lich wie­der zu ver­ges­sen und sich statt­des­sen auf die Ver­stan­des­rei­se zu bege­ben, die „Magne­tic Anoma­ly“ ist.

    Ganz famos.

    Rein­hö­ren: Ich schla­ge aber­mals Bandcamp.com vor, Amazon.de ist aber auch in Ordnung.

  16. Hibu­shi­bi­re – Freak Out Orgasm!

    „Alter!“

    Das war die erste Notiz, die ich beim Anspie­len der vor­lie­gen­den Musik ver­schrift­licht habe, und wie­der­hol­te Leser mei­ner Tex­te neh­men ver­mut­lich zu Recht an, dass ich nicht ohne einen guten Grund dazu nei­ge, mei­ne Spra­che alters­mä­ßig der­ma­ßen weit zurück­zu­dre­hen, aber es gibt tat­säch­lich musi­ka­li­sche Wer­ke, denen eine sonst­wie erwach­se­ne Spra­che nicht gerecht würde.

    Wenn ein Ton­trä­ger schon „Freak Out Orgasm!“ heißt, dann erwar­tet man meist ent­we­der eine Frank-Zap­pa-Reve­renz oder anders­ar­tig total durch­ge­knall­ten Hör­ge­nuss. Hier haben wir es mit Letz­te­rem zu tun, was ich gut fin­de, weil ich total durch­ge­knall­te Hör­ge­nüs­se mag und Frank Zap­pa nicht.

    „Hibu­shi­bi­re“ heißt laut Quel­len, deren Japa­nisch zumin­dest bes­ser ist als mei­nes, unge­fähr „Geheim­nis der Taub­heit“, was ich nicht ver­ste­he, weil ich bis­lang annahm, Geheim­nis­se sei­en nur dann als Geheim­nis­se qua­li­fi­ziert, wenn man sie nicht per Laut­spre­cher­wa­gen durch rege wuseln­de Groß­städ­te trans­por­tiert und sie über­dies mit „Ach­tung, hier kommt ein Geheim­nis!“ anmo­de­riert, wobei das Japa­ni­sche natür­lich eine der­ma­ßen hin­ter­sin­ni­ge Spra­che ist, dass „Hibu­shi­bi­re“ in einem, glaubt man dem vir­tu­el­len Wasch­zet­tel zu „Freak Out Orgasm!“, alten japa­ni­schen Por­no­dia­lekt – ich fin­de es etwas scha­de, dass mir gera­de kein alter deut­scher Por­no­dia­lekt ein­fällt, von Säch­sisch ein­mal abge­se­hen – auch „Aus­rast­or­gas­mus“, „freak out orgasm“ also, hei­ßen kann. Japa­ner sind merk­wür­dig. Die drei hier betei­lig­ten Musi­ker „hei­ßen“ Chang Chang, Ryu Matsu­mo­to und 821, was ein so schö­ner Name ist, dass ich ernst­haft hof­fe, nie­mals eine Frau zu fin­den, die möch­te, dass ich ihrem Kind einen Namen gebe, denn sonst wird das Kind mich spä­ter has­sen, und bei „Freak Out Orgasm!“, fünf Jah­re nach der Grün­dung des Tri­os ver­öf­fent­licht, han­delt es sich laut ver­schie­de­nen Quel­len ent­we­der um das Debüt­al­bum oder um den/die/das Debüt-EP der Grup­pe, also noch nicht ein­mal ein rich­ti­ges Album, aber in einer Zeit, in der Musikal­ben ohne­hin kaum noch mehr als eine hal­be Stun­de lang sein müs­sen, ins­be­son­de­re dann nicht, wenn es um irgend­wel­che Gel­desel geht, die es zu mel­ken gilt, wes­halb wenig „Musik“ auf so vie­le sepa­ra­te Ver­kaufs­ein­hei­ten ver­teilt wird wie es irgend­wie mög­lich ist, ohne dass die Schar der Anhän­ger all­zu schnell ver­är­gert ist und ihr Taschen­geld nicht mehr her­aus­rückt, sind EPs von 39:18 Minu­ten Län­ge schon aus wirt­schaft­li­cher Sicht bemer­kens­wert. Wie lang das erste Voll­zeit­al­bum wohl sein wird? Wie lang ist so eine japa­ni­sche Vollzeit?

    Die vier ent­hal­te­nen Stücke, angeb­lich an nur einem Tag auf­ge­nom­men, hei­ßen „Lucifer’s My Fri­end“ (die Krautrock­band ähn­li­chen Namens ist an die­ser Stel­le völ­lig egal), „Hal­lu­ci­n­a­ti­on Val­ley Blues – Fly­ing Shi­va Attack – Hal­lu­ci­n­a­ti­on Val­ley Blues (Repri­se)“, „Tre­pan­a­ti­on Break­down“ und „Deep Throat River Holy Moun­tain High“, wobei letz­te­res Stück mit fast 20 Minu­ten Län­ge eigent­lich zusam­men­ge­fasst schon völ­lig rei­chen wür­de, um jedem Leser die­ses Absat­zes, der einen mit dem mei­nen ver­gleich­ba­ren musi­ka­li­schen Vogel hat, sozu­sa­gen die Ohren wäss­rig zu machen (oder wie heißt das, wenn man eif­ri­ge Lust auf etwas zum Hören statt etwas zum Essen bekommt?), wes­halb ich es jetzt noch­mals höre und davon erzäh­le, war­um mir dabei, um juve­nil zu blei­ben, voll einer abgeht: Weil es näm­lich den mit auf­ge­dreh­tem Laut­stär­ke­reg­ler gespiel­ten Stil­mix aus psy­che­de­lisch fuzzge­tränk­tem Blues­rock, japa­ni­scher Folk­mu­sik und unge­zü­gel­tem RIO/Avant, der Hibu­shi­bi­res Debüt­werk aus­macht, nicht bloß wie­der­holt, son­dern auf die Spit­ze treibt, indem näm­lich zunächst wie einst bei den Beat­les fern­öst­li­che Klän­ge ertö­nen, den ein text­lo­ser Chor beglei­tet, dann eine ner­vö­se Gitar­re über Bass und Schlag­zeug soliert, bevor Gitar­rist und Sän­ger Chang Chang in einer mir unbe­kann­ten Spra­che so etwas wie Stro­phen zu den zuvor gehör­ten fern­öst­li­chen Klän­gen singt. Die effekt­ge­la­de­ne Gitar­re walzt nach Abschluss die­ses Gesangs­teils das sich auf­bäu­men­de und hek­tisch um sich schla­gen­de Schlag­zeug mit schlich­ter Laut­stär­ke sozu­sa­gen ein­fach platt. Sie­ben Minu­ten sind vor­über: Nach einem kur­zen Inter­mez­zo wett­strei­ten die ent­fes­sel­ten Instru­men­te, per Stu­dio­nach­be­ar­bei­tung aber­mals um hier­zu­lan­de eher sel­ten anzu­tref­fen­de Instru­men­te wie Zur­na und San­tur erwei­tert, bis zur Kli­max (Ohr­gas­mus eben) dar­um, wel­ches wohl das domi­nan­te blei­ben mag. Es folgt die Ruhe vor dem erneu­ten Sturm, ein Klang­tep­pich mit Per­kus­si­on, von dem eine unbe­stimm­te Gefahr eben­so aus­zu­ge­hen scheint wie eine unbe­stimm­te Hoff­nung, zu dem sich nach eini­ger Zeit wie­der der text­lo­se Chor gesellt. – Schnitt! Unbe­kann­te Instru­men­te spie­len eine beru­hi­gend-hyp­no­ti­sche Melo­die, deren Rhyth­mus man gera­de zu fin­den glaubt, als das gesam­te Instru­men­ta­l­in­ven­tar ohne lan­ge Vor­re­de wie­der völ­lig durch­dreht und jeden Gedan­ken an eine Ori­en­tie­rung ver­ges­sen lässt. Wer braucht Tak­te, wenn er statt­des­sen auch den Ver­stand ver­lie­ren kann? Es bratzt und hupt und bret­tert und knat­tert herr­lichst und schein­bar ohne jeden Halt, bis plötz­lich das Schlag­zeug­mo­tiv völ­lig unbe­merkt wie­der eine Regel­mä­ßig­keit ent­wickelt hat und die letz­te Stro­phe auf­grund der über­haupt nicht an etwas Zurück­hal­tung zu den­ken schei­nen­den Instru­men­te mehr geru­fen als gesun­gen wird. Dem an schließt sich ein ener­gie­ge­la­de­nes Hard­rock­so­lo, das nur so lan­ge an Black Sab­bath erin­nert, bis einem der Name die­ser Band wie­der ein­ge­fal­len ist, denn sofort zer­streut die Spren­gung der Hard­rock­kli­schees mit­tels instru­men­ta­ler Eska­la­ti­on die Irri­ta­ti­on. „Deep Throat River Holy Moun­tain High“ endet mit einem Aus­blen­den der Melo­die vom Anfang und ist laut Plat­ten­fir­ma ein „reprä­sen­ta­ti­ves Lied“ von Hibu­shi­bi­re, das oft auf Kon­zer­ten gespielt wer­de. Ich emp­fin­de plötz­lich das unbe­ding­te Ver­lan­gen, mich davon eines Tages selbst zu über­zeu­gen, falls ich bis dahin mei­ne Spra­che wie­der­ge­fun­den habe. Alter!

    Als Ein­flüs­se nen­nen die Musi­ker unter ande­rem Can, Acid Mothers Temp­le und deren Neben­pro­jek­te, King Crims­on, Hawk­wind und Träd, Gräs och Stenar. Wem das – wie mir – weder fremd noch unheim­lich ist, der wird mit „Freak Out Orgasm!“ auf eine fan­ta­sti­sche Wei­se voll auf sei­ne Kosten kommen.

    Rein­hö­ren: Vide­os, Stream und Kauf emp­feh­len sich über Bandcamp.com.

  17. Buffy Sain­te-Marie – Medi­ci­ne Songs
    „And now our histo­ry gets writ­ten in a liar’s scrawl“ (Bury My Heart at Woun­ded Knee)

    Zur Abwechs­lung haben wir es hier mit Musik zu tun, die älter ist als sie klingt: Buffy Sain­te-Marie wur­de im Febru­ar 1941 in einem kana­di­schen Reser­vat für Cree-India­ner gebo­ren und ist seit ihrer Kind­heit musi­ka­lisch aktiv. In den 1960er Jah­ren hing sie, so will es die Legen­de, mit ande­ren jun­gen kana­di­schen Künst­lern her­um, dar­un­ter Leo­nard Cohen, Neil Young und Joni Mit­chell, die sie ver­mut­lich nicht unbe­ein­druckt lie­ßen. In den fol­gen­den Jahr­zehn­ten schrieb Buffy Sain­te-Marie man­ches Lied und ver­öf­fent­lich­te – mit einer sech­zehn­jäh­ri­gen Pau­se bis 1992 – man­ches Album. 2017 gesell­te sich „Medi­ci­ne Songs“ hin­zu, auf dem sich auch Lie­der befin­den, die von ihr schon vor Jahr­zehn­ten erst­mals gespielt wur­den. Von einem blo­ßen kom­mer­z­ori­en­tier­ten „Best-of“-Album zu reden liegt mir aber fern.

    Buffy Sain­te-Marie klingt wie eine india­ni­sche Rock­ver­si­on von Joni Mit­chell und/oder Joan Baez: Es gibt sitz­tanz­taug­li­che Folk­mu­sik mit typisch india­ni­schen Gesän­gen, mal elek­tro­ni­scher („The War Racket“, „Power in the Blood“), mal aku­sti­scher, dylan­es­que gar (etwa „Uni­ver­sal Sol­dier“ und „My Coun­try ‚tis Of Thy Peo­p­le You’­re Dying“, eine Art kana­di­sches Volks­lied, das Buffy Sain­te-Marie bereits 1966 auf­ge­nom­men hat­te); es gibt Schla­ger („Fal­len Angels“ oder das für Men­schen, die Ame­ri­ka mit den USA gleich­set­zen, unge­wöhn­li­che „Ame­ri­ca The Beau­tiful“), aber auch mal Gitar­ren­rock („Bury My Heart at Woun­ded Knee“, „Gene­ra­ti­on“). Mit­un­ter ähnelt das der Musik, die in Deutsch­land in den 70ern und frü­hen 80ern („Star­wal­ker“) oder ein hal­bes Jahr­zehnt spä­ter („The Priests of the Gol­den Bull“) in die Hit­pa­ra­den geschos­sen wur­de („Pop“), aber für Radio klingt das viel zu prima.

    Zwei­fel­los sind dem Radio Lied­tex­te in frem­den Spra­chen auch egal (immer­hin spielt man dort auch gleich­gül­tig „Walk On The Wild Side“), sonst wäre Buffy Sain­te-Marie für die öffent­li­che Wahr­neh­mung ver­mut­lich auch zu kri­tisch: Text­lich befas­sen sich die „Medi­ci­ne Songs“ wie auch der über­wie­gen­de übri­ge Teil des Gesamt­werks der Sän­ge­rin mit der Ver­stän­di­gung zwi­schen India­nern und dem wei­ßen Mann. Pro­test­mu­sik eben – nur aus einer ande­ren Per­spek­ti­ve als der Westen das mög­li­cher­wei­se gewohnt ist. Jaja: Wer hört schon den Tex­ten zu? Tex­te sind nur span­nend, wenn sie gegen den Rich­ti­gen gerich­tet sind. Trump. „Nazis“ und so. Aber doch nicht gegen uns!

    Ach, ach.

    Rein­hö­ren: Wie wär’s mit TIDAL?

    Kei­ne Sor­ge, wir sind bald fer­tig. Ich fas­se mich jetzt ein wenig kür­zer, so viel Zeit haben wir ja alle nicht mehr.

  18. Yowie – Synchromysticism
    Yowie (allein der Name schon!) spie­len instru­men­ta­len Frickel-Shoe­ga­ze mit schweiß­trei­ben­dem Schlag­zeug­spiel, wovon es frag­los so man­chen Ver­tre­ter geben mag, wes­halb klei­ne Per­len wie die­se immer wie­der ein Leuch­ten her­vor­brin­gen, was ja gera­de im Win­ter nicht unwill­kom­men ist. Ama­zon.
  19. God­speed You! Black Emper­or – Luci­fe­ri­an Towers
    Die viel­köp­fi­ge kana­di­sche Postrock­in­sti­tu­ti­on begrün­det mit Musik gewor­de­nem fran­zö­si­schem Kino zwi­schen Dra­ma und Tier­do­ku­men­ta­ti­on auch in die­sem Jahr wie­der, war­um auf sie an lan­gen Win­ter­aben­den nicht ver­zich­tet wer­den soll­te. TIDAL.
  20. Media­ban­da – Bom­bas en el aire
    End­lich mal Lati­no­mu­sik, die zu gut ist, um bloß Tele­no­ve­las zu unter­ma­len, weil sie nicht nur ziem­lich gut abgeht, son­dern über­dies für Radio­taug­lich­keit deut­lich zu ambi­tio­niert ist, was sich nicht nur aus Prin­zip, son­dern auch und gera­de beim Hören sehr ange­nehm aus­wirkt. Ama­zon.
  21. Kai­ser Franz Josef – Make Rock Gre­at Again
    Hard­rock aus natür­lich Öster­reich, der sich bei AC/DC, den White Stripes und den Strokes eben­so bedient wie bei den ein­schlä­gi­gen Ver­tre­tern der absur­den Brit­pop­wel­le vor ein paar Jah­ren; was, frei­lich, eher wie 2007 als wie 2017 klingt, aber von die­sem 2007 kann es noch nicht genug geben. Ama­zon.
  22. Mono­lord – Rust
    Aus Schwe­den, Gegend der dunk­len Metal­bands, stammt auch die dunk­le Doom-Metal-Band Mono­lord, deren aktu­el­les Album „Rust“ erst im Sep­tem­ber erschien und sich mit schlep­pen­den Rhyth­men und viel­fa­cher Ver­zer­rung exem­pla­risch für eine Vor­füh­rung als Ant­wort auf die gele­gent­lich zu stel­len­de Fra­ge, was man an sol­cher Musik eigent­lich so gut fin­de, eig­net, denn die Mit­wipp­wahr­schein­lich­keit ist hier gen­re­ty­pisch bemer­kens­wert hoch. Band­camp.
  23. Kett­le­spi­der – Kettlespider
    Auf ihrem zwei­ten, trotz­dem nach sich selbst benann­ten Stu­dio­al­bum bril­liert das austra­li­sche Instru­men­tal­quin­tett Kett­le­spi­der mit jazz­kom­pa­ti­blem, den­noch gitar­ren­fo­kus­sier­tem Pro­gres­si­ve Rock, der in den ruhi­gen Momen­ten King Crims­on, in den ener­ge­ti­sche­ren Rush nicht ein­fach kopiert, son­dern im Fluss aus bra­vou­rö­sen Rhyth­men mit­zie­hen lässt. Band­camp.
  24. In Search Of Sun – Vir­gin Funk Mother
    Dass ich Spaß an dem habe, was Jea­ve­stone ein­mal recht tref­fend als „Prog’n’Roll“ beschrie­ben, bei Quatsch­jour­na­li­sten ver­mut­lich „Alter­na­ti­ve Rock“ hie­ße und unge­fähr klingt wie hüp­fen­de, krumm­tak­ti­ge Som­mer­hits von Leu­ten, die ihr bevor­zug­tes Instru­ment noch selbst spie­len und nicht am Com­pu­ter simu­lie­ren, bestä­ti­gen 2017 die Bri­ten von In Search Of Sun, die mit ihrem „unge­stü­men Gen­re-Cock­tail“ (Mar­co Götz, „METAL HAMMER“) auch an käl­ter wer­den­den Aben­den eine gewis­se Freu­de an Bewe­gung auf­kom­men las­sen. Ama­zon.
  25. I Am the Manic Wha­le – Gathe­ring the Waters
    Wer glaub­te, dass das The­ma Retro­prog in Yes’scher Tra­di­ti­on 2017 kei­ne gro­ße Rol­le mehr spie­le, der unter­schätz­te die Begei­ste­rung immer neu­er Musi­ker für die alten Mei­ster, wie auch die vier Her­ren von I Am the Manic Wha­le, einer sehr schön hei­ßen­den bri­ti­schen Band mit aus­ge­wie­se­ner Freu­de an der Musik von Big Big Train, (den alten) Yes, Rush und Art­ver­wand­ten, auf ihrem erfreu­li­chen Zweit­ling „Gathe­ring the Waters“, der bei aller Sieb­zi­ge­rei frisch und knackig aus dem Kopf­hö­rer schallt, berei­chernd bele­gen. Band­camp.
  26. Pere Ubu – 20 Years in a Mon­ta­na Mis­sile Silo
    Auch nach 42 Jah­ren weiß die musi­ka­li­sche Kon­stan­te – inzwi­schen zum Nonett ange­wach­sen – die bewähr­te, aber nie­mals lang­wei­li­ge Ver­bin­dung aus Blues­rock, Rock’n’Roll und Avant­gar­de­s­quem, die von Tom Waits bis Hen­ry Cow eigent­lich bei­na­he alles, was eini­ger­ma­ßen, aber noch nicht über­trie­ben schräg ist, als hör­ba­ren Ein­fluss ver­eint, zu einem Genuss zu machen, was wohl auch an der wand­lungs­fä­hi­gen Stim­me des letz­ten ver­blie­be­nen Band­grün­ders David Tho­mas lie­gen mag, des­sen Vokal­kün­ste allein schon eine Kennt­nis­nah­me emp­feh­len. Ama­zon.
  27. Les­ser Men – Biding Time
    Die Musik auf „Biding Time“ ist im Kern melo­di­scher Brüll­me­tal zwi­schen Dream Thea­ter, Tool und A Sil­ver Mt. Zion („2305“), der die inne­re Ver­zweif­lung des Hörers (lies: Ver­fas­sers die­ser kur­zen Rezen­si­on) aus­rei­chend anre­gen, dass er sich zum Mit­brül­len ani­miert fühlt, lei­der ken­ne ich aber den Text (und die Melo­die) noch nicht gut genug, habe mir aber vor­ge­nom­men, das in näch­ster Zeit bei sich bie­ten­der Gele­gen­heit zu kor­ri­gie­ren. Band­camp.
  28. Ufom­am­mut – 8
    Das ziem­lich ita­lie­ni­sche, ziem­lich bär­ti­ge Stoner-Doom-Metal-Trio mit dem wohl­klin­gen­den Namen Ufom­am­mut weiß auch nach acht­zehn Jah­ren Band­ge­schich­te auf ihrem aus acht Stücken bestehen­den ach­ten Stu­dio­al­bum, der Ein­fach­heit zugun­sten schlicht „8“ („Acht“) benannt, noch posi­ti­ve Über­ra­schun­gen bereit­zu­hal­ten. Band­camp.
  29. The Fly­ing Eyes – Bur­ning Of The Season
    The Fly­ing Eyes prä­sen­tie­ren soli­den, moder­nen Rock’n’Roll mit ange­nehm bret­tern­der Gitar­re, galop­pie­ren­dem Schlag­zeug und gen­re­un­ty­pisch unpein­li­chem Gesang und sind eine wert­vol­le Ergän­zung für den Plat­ten­schrank jedes Musik­freun­des, der fin­det, dass die­se Gitar­ren­bands heut­zu­ta­ge ins­ge­samt viel zu viel Pop­mu­sik machen. Band­camp.
  30. Orpheus Nine – Tran­s­cen­den­tal Circus
    Das beste Trans­at­lan­tic-Album des Jah­res 2017 haben Orpheus Nine ver­öf­fent­licht: Retro-Prog mit deut­li­cher Can­ter­bu­ry­note kann auch frisch und unpein­lich klin­gen – gern mehr davon. Band­camp.

So! Was machen wir jetzt? Ah, rich­tig: Eine Rück­schau auf fuff­zich Jah­re Musik­ge­schich­te. Das fällt mir jedes Mal ein biss­chen schwe­rer, weil der Abstand zwi­schen heu­te und vor 50 Jah­ren mir immer kür­zer vor­kommt. Alt zu wer­den ist anstren­gend, man möge es mir nicht nachmachen.

2. Alt und stark.

  • Vor 50 Jahren:

    Über 1967 muss man musi­ka­lisch nicht mehr vie­le Wor­te ver­lie­ren, denn das mei­ste (Beat­les, Vel­vet Under­ground, Beach Boys) ist zur Genü­ge bekannt. Anson­sten geschah unter ande­rem dies: Im Fern­se­hen lief „Dakt­a­ri“, die Musik zur Serie wur­de so beliebt wie die Serie selbst. Mar­vin Gaye erhol­te sich noch von dem Erfolg sei­ner Cover­ver­si­on von „I Heard It Through the Grape­vi­ne“ und ließ erst ein­mal das zusam­men mit der jun­gen, aller­dings nicht mehr all­zu lan­ge leben­den Sän­ge­rin Tammi Ter­rell auf­ge­nom­me­ne Album United ver­öf­fent­li­chen. Der Schnul­zen­sän­ger Neil Dia­mond nann­te sein zwei­tes, nicht all­zu übles Voll­zeit­al­bum, auf dem die mei­sten Lie­der, die man von ihm halt so kennt, drauf sind, „Just For You“, die Bee Gees ihr drit­tes irri­tie­ren­der­wei­se Bee Gees‘ 1st. Auch die Sän­ge­rin Nico, die 1966 im Film „Chel­sea Girls“ mit­ge­spielt hat­te, begann im glei­chen Jahr mit Chel­sea Girl ihre, wie ich fin­de, zu kur­ze Solo­kar­rie­re, wäh­rend Leo­nard Cohen offen­bar gar nicht wuss­te, dass er noch bis 2016 eine Men­ge Musik machen wür­de, und sein eben­falls 1967 erschie­ne­nes Debüt­al­bum schlicht Songs of Leo­nard Cohen nann­te. Lustig wäre es gewe­sen, hät­te er ein­fach jedes Album so genannt, denn es waren ja in der Regel alle­samt sei­ne Lie­der. Dann eben nicht.

  • Vor 40 Jahren:

    1977, das Jahr des unter­ge­hen­den Pro­gres­si­ve Rock, zer­rie­ben von Punk- und Dis­co­mu­sik? Fast! Die natür­lich bri­ti­sche Band Eng­land, die es seit weni­gen Jah­ren gab, zeig­te mit ihrem ersten und letz­ten regu­lä­ren Album Gar­den Shed noch ein­mal, dass es ein Feh­ler sein wür­de, Drei-Akkor­de-Musik dem ele­gi­schen „Prog“ der spä­ten Sech­zi­ger vor­zu­zie­hen, ist damit jedoch lei­der nicht beson­ders weit gekom­men. Uni­vers Zero debü­tier­ten mit 1313, Van der Graaf Gene­ra­tor kaschier­ten den Weg­gang von David Jack­son und Hugh Ban­ton, indem sie den Gene­ra­tor aus ihrem Namen stri­chen und mit dem Neu­mit­glied Gra­ham Smith an der Vio­li­ne und dem Alt­bas­si­sten Nic Pot­ter das stim­mi­ge The Quiet Zone / The Plea­su­re Dome prä­sen­tier­ten. Peter Gabri­el ver­ar­bei­te­te sei­nen Aus­stieg bei der ner­vi­gen Insel­band Gene­sis inzwi­schen, indem er mit dem lang­wei­lig benann­ten Album I sei­ne Solo­mög­lich­kei­ten zu erfor­schen begann. Mit dem fünf­ten Album namens So (1986) hör­te er dann auch end­lich auf, sei­ne Alben ein­fach nur durchzunummerieren.

  • Vor 30 Jahren:

    Wer hat zwei Dau­men und möch­te nicht mehr über die Unmu­sik der 1980er reden? – 1987 war selbst dort, wo einst Gro­ßes geschaf­fen wor­den war, so scheuß­lich wie erwar­tet: Yes wider­ten die Welt mit Big Gene­ra­tor an, Micha­el Jack­son ver­ton­te sein Bad, selbst Maril­li­ons letz­tem Album mit dem fan­ta­sti­schen Sän­ger Fish namens Clut­ching at Straws wohn­te kein Zau­ber mehr inne. Aus der Deckung trau­te sich Enya, deren Debüt lei­der genau so hieß, jedoch mach­ten Pop Will Eat Its­elf (Box Fren­zy) und Värt­ti­nä (Debüt­al­bum Värt­ti­nä) Hoff­nung, dass das nicht alles gewe­sen sein würde.

  • Vor 20 Jahren:

    Na also, es ging doch: Die ver­rück­ten Japa­ner Acid Mothers Temp­le & the Mel­ting Parai­so U.F.O. ent­fern­ten 1997 den Geni­tiv­a­po­stroph aus ihrem Band­na­men und ver­öf­fent­lich­ten drei Alben, Mor­phi­ne über­zeug­ten auf dem erfolg­rei­chen Like Swim­ming noch ein­mal mit ihrem unver­gleich­li­chen jazz noir, die irgend­wie ähn­li­chen Tin­der­sticks leg­ten das fei­ne Curta­ins vor. In Kana­da ent­fal­te­ten sich God­speed You! Black Emper­or mit ihrem ersten Album F♯ A♯ ∞, das von zeit­ge­nös­si­scher Kri­tik für sei­ne, ver­gli­chen mit dem Rest der 1990er, bemer­kens­wer­te Schön­heit gewür­digt wur­de, die schot­ti­schen – mehr oder weni­ger – Gen­re­kol­le­gen Mog­wai debü­tier­ten mit Mog­wai Young Team. Schön­heit ist ja immer auch eine Fra­ge der Rela­ti­on: Die ein­sti­gen Anar­cho­punks Chum­ba­wam­ba lan­de­ten mit Tub­thum­per und dem Qua­si-Titel­lied „Tub­thum­ping“ einen ärger­li­chen Welt­hit, hin­ter dem ihre übri­gen Wer­ke zu Unrecht fast ver­schwan­den und heu­te so gut wie ver­ges­sen sind. Kon­se­quent ver­öf­fent­lich­te eben­falls 1997 die eng­li­sche Band Blur, die so heißt wie das Geräusch, das man macht, wenn man sie hört, ihr fünf­tes Album, das so heißt wie das Geräusch, das man macht, wenn man es hört, näm­lich Blur.

  • Vor 10 Jahren:

    Ein neu­es Jahr­tau­send, eine neue Musik. „Neu“? Nun ja, es wur­de vie­les schon gesagt, nur noch nicht von jedem: Star­cast­le waren mit Song of Times wie­der zurück und mach­ten – wenn auch auf beacht­lich hohem Niveau – immer noch den Pro­gres­si­ve Rock der 1970er nach, Rush spiel­ten auf Sna­kes & Arrows Musik, die nach Rush klingt, und Por­cupi­ne Tree, deren Front­mann Ste­ven Wil­son ich die Behaup­tung, es sei jede Musik schon gemacht wor­den, eigent­lich ent­lie­hen habe, setz­ten auf Nil Recur­ring ihren damals aktu­el­len Stil ein­fach fort. Mit For­ni­ka sta­gnier­ten auch Die Fan­ta­sti­schen Vier, auf den fol­gen­den Alben ging es erschreckend schnell berg­ab. Wage­mu­ti­ger zeig­te sich Nick Cave, des­sen gewal­ti­ge Noi­ser­ock­band Grin­der­man 2007 ein­drucks­voll im Stu­dio debü­tier­te, eben­so wie das Augs­bur­ger Postrock­wun­der Dear John Let­ter, des­sen hand­ge­kleb­te EP2007 auch heu­te noch, obwohl die Band längst Car­pet heißt und mich lang­weilt, einen Ehren­platz in mei­nem aus­ge­dünn­ten CD-Regal hat.

Durch? Durch! Die näch­ste Rück­schau wird es, falls nichts dazwi­schen­kommt, etwa zur Halb­zeit 2018 an die­ser Stel­le geben. Ich hof­fe, 2018 wird in musi­ka­li­scher Hin­sicht min­de­stens genau so inter­es­sant wie 2017 werden.

Nun bleibt es mir eigent­lich nur, mich bei allen Lesern für die Geduld, bis hier­hin gele­sen zu haben, zu bedan­ken und ihnen eine ertrag­rei­che Rei­se durch das hier Vor­ge­stell­te zu wün­schen. Wie immer bit­te ich um Ergän­zung, soll­te ich ein inter­es­san­tes Album ver­ges­sen haben – ich rei­che es dann gege­be­nen­falls spä­ter nach.

Seri­en­na­vi­ga­ti­on« Musik 06/2017 – Favo­ri­ten und Ana­ly­seMusik 06/2018 – Favo­ri­ten und Analyse »

Senfecke:

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