2015? Da war doch was? Mir war, als hätte ich etwas vergessen. Nein, vergessen wohl nicht, aber es gibt tatsächlich noch etwas aus dem Vorjahr zu vermelden, nämlich den zweiten Teil der Liste der wundervollsten Musikalben von 2014. Auch, wenn diesmal nicht noch in letzter Minute neue Alben dazugekommen sind, da ich mir genug Zeit genommen hatte, erhebt natürlich auch diese Liste nicht den Anspruch auf Vollständigkeit; schon weil mit Bent Knees Debütalbum ein frenetisch gefeiertes Album fehlt, was nicht daran läge, dass es schlecht ist (es ist gut), sondern schlicht daran, dass die Band studioseitig weit unter ihren Möglichkeiten agiert. Eine Konzert-DVD wäre willkommen.
Draußen bleiben mussten überdies Heino („Schwarz blüht der Enzian“) und Unheilig aus Qualitätsgründen, im Gegenzug verzichtete ich auf die Mehrfachnennung der bereits anderswo von mir gewürdigten neuen Alben von Boris, Margin und den Fantastischen Vieren. Das ziemlich gute „Goodnight Civilization“ von Zu muss leider ebenfalls fehlen – als EP gelingt ihm das Hineinmogeln in diese Liste diesmal nicht.
Nichtsdestoweniger schließe ich nicht aus, auch schlicht etwas vergessen zu haben. Euch fehlt ein relevantes Album? Kommentiert’s hier gern unten drunter!
Auf die Plätze, fertig, …
1. Los!
Cosmograf – Capacitor
„When I go through this door / I can’t take any more“ (The Reaper’s Song)Den Anfang macht bedrohliches Grollen. Cosmograf – das sind keine Normannen – lassen sich Zeit.
Der nach Spacerock klingende Bandname ist kein Zufall, aber Multiinstrumentalist Robin Armstrong hat für das aktuelle Album seines Soloprojekts Cosmograf neben seinen bewährten Weggefährten Nick D’Virgilio (Schlagzeug, sonst bei Big Big Train und zuvor auch Spock’s Beard) und Steve Dunn (Bass, Also Eden) auch Unterstützung von Colin Edwin (Bass, Porcupine Tree), Nick Beggs (Bass, Steven Wilson und Lifesigns) sowie Matt Stevens (Gitarre, The Fierce And The Dead) erhalten; zudem ist Andy Tillison (The Tangent, Parallel or 90 Degrees) in „The Drover“ an den Keyboards zu hören; dieses Personal wirkt sich natürlich darauf aus, wohin die musikalische Reise geht.
Laut Eigenbeschreibung der Band ist sie „verwurzelt im Classic Rock der 1970er mit einem zeitgemäßen und progressiven twist, jedoch ist auch hier nicht vom aberdutzendsten Genesis-Klon auszugehen, dafür ist es dann doch zu modern. Vielmehr deutet alles in Richtung der eher elektronischen Seite des New Artrocks. Porcupine Tree und Spock’s Beard klingen stets mit.
Apropos Genesis: Vor Phil-Collins-Gesang muss man sich hier nicht fürchten, vielmehr überwiegt das gesprochene Wort; auch dann, wenn ein Stück einen Titel wie „The Reaper’s Song“ trägt, dessen lyrics nebenbei das gute alte „I Am The Walrus“ der Beatles (Waiting for the train to come) in Erinnerung rufen. Von wegen Unheilig – der Cosmograf ist besser.
Damit wäre die Messlatte für Wortspiele im Übrigen dann auch mal gesetzt.
Hörproben: Per Bandcamp.com gibt’s Stream und Kaufdownload, eine CD- oder Vinylversion indes scheint momentan nicht zu existieren.
CHROMB! – „II“
CHROMB! Gesundheit! Franzosen, natürlich. Das Wort scheint nur als Eigenname zu existieren und ist damit erfreulicherweise unübersetzbar. CHROMB! haben sich bereits Abende mit Bands wie James Chance & The Contortions und den Landsleuten von Magma geteilt. Das sind gute Voraussetzungen.
Mit „II“ – die Anführungszeichen gehören offenbar zum Titel – liegt nun das zweite Album der Combo vor. (Für eifrige Leser: Ratet mal, wie das erste hieß.) Dass es gar nicht nach Magma klingt und die Zeuhl-Anleihen sich trotz des kammermusikalischen Beginns auf allenfalls kurze Momente („La Saulce“ enthält solche Momente) beschränken, stört nur wenig.
Die Keyboards von Camille Durieux sind hier dominant. Gitarre? Gibt es nicht, brauchen wir nicht. Das klingt bunt, das klingt so:
Da werden munter Klassik-Rock-Einlagen mit Jazz, RIO und sogar Pop (gelegentlich sind Disco-Rhythmen zu hören) vermengt, alles freilich in einer komplett überdrehten Variante und praktisch durchweg auf Speed. Hämmerndes Klavier, quietschige Synthies, rumpelnder Bass, furioses Schlagzeug und trötiges Saxophon (keine Gitarre!) prägen die Musik, die beständige Kapriolen schlägt, munter von einem Stil zum anderen springt.
Franzosen. Schon seltsam manchmal.
Hörproben: Das Quartett ist auf Bandcamp präsent; diesmal gibt es auch CD und Vinyl zu kaufen.
iamthemorning – Belighted
„How come that I still breathe?“ (The Howler)Auch seltsam manchmal: Russen. iamthemorning sind für regelmäßige Leser inzwischen alte Bekannte, erst im Juli 2014 war „Miscellany“ als Kurzzeitalbum eine Empfehlung wert. Ich kündigte zu diesem Anlass an:
Pünktlich am 1. Januar 2014 erschien diese EP von etwas über 23 Minuten Spieldauer in Vorbereitung auf das zweite Vollzeitalbum, das ich dann mal in meinem schier grenzenlosen Optimismus noch in diesem Jahr erwarte.
Seitdem haben sich in unserem Verhältnis zu Russland einige Änderungen ergeben, was als Rache für t.A.T.u. nicht mehr ganz so grotesk überzogen scheint.
Aber hier soll’s nicht um schrecklichen Pop, sondern um prima sphärischen Artrock gehen. iamthemorning legen nun immerhin seit über einem Jahr Musik von gleichbleibend hoher Qualität vor, was andere nicht mal für die Dauer eines einzigen Albums schaffen. Nun also „Belighted“. Soll noch einer sagen, das klinge alles gleich; mehr denn je zuvor greifen iamthemorning zum Wechsel zwischen sanftem Windsäuseln und kernigem Rock. Manchmal allerdings kommt es einem doch spanisch vor, wenn iamthemorning etwa an Flamenco erinnernde Rhythmen in ihre eigene Klangwelt einweben wie in einen viel zu wertvollen Teppich. Man greift nach neuen Welten und doch auf seinem Pfad.
Die „eclipsed“ wusste im Oktober zu mutmaßen:
Mit „Belighted“ gehen die russischen Artrocker iamthemorning einer strahlenden Zukunft entgegen
Das, freilich, nur, wenn der Zeitgeist begeistert bleibt. Daran indes zweifle ich nicht im Geringsten.
Hörproben: Hören und sich hübsch verpackt nach Hause liefern lassen kann man „Belighted“ zum Beispiel auf Bandcamp.
Acid Mothers Temple & The Melting Paraiso U.F.O. – Astrorgasm From The Inner Space
Wiederum beschwingter geht es beim japanischen Acid Mothers Temple zur Sache. Acid Mothers Temple haben in den demnächst zwanzig Jahren ihres Bestehens in verschiedenen Besetzungen bislang insgesamt 72 Studio- und 34 Livealben sowie diverse EPs und sonstige Veröffentlichungen eingespielt, machen das hier also nicht zum ersten Mal. Dass ich sie trotzdem bisher völlig ignoriert habe, ist allein mein Verschulden. Offensichtlich habe ich dabei sowieso etwas Großes verpasst.
Überwiegend ist die Band um den Gitarristen und Sänger Kawabata Makoto dabei unter dem Namen Acid Mothers Temple & the Melting Paraiso U.F.O. aktiv, arbeitet aber auch mit Krautrockbands wie Guru Guru (Acid Mothers Guru Guru) und Artverwandten wie Gong (Acid Mothers Gong) zusammen. Im Allgemeinen spielt sie dabei Space- und Psychedelic Rock mit gelegentlichem „Heavy“-Einschlag. Die Studioalben tragen mitunter die Popkultur referenzierende Titel wie „41st Century Splendid Man“ (2002), „Son of a Bitches Brew“ (2012) und „Absolutely Freak Out (Zap Your Mind!!)“ (2001), die so gut wie nie auch nur annähernd nach den referenzierten Alben klingen. Dies nur als Einführung. Seid ihr schon verwirrt? Dann hört lieber gar nicht erst rein.
Diesmal trägt das Album zumindest einen Titel, der andeutet, wohin die – tatsächlich – Reise führt. Krautrock, Kammerprog und Spacerock sind auszumachen, mitunter, etwa am Ende von „Pleasure Mantra of Sorrows“, wird es auch ambientartig. Von welchem der vielen Alben titels „irgendwas from Outer Space“ der „Astrorgasmus“ abgeleitet ist, konnte ich allerdings nicht herausfinden.
Erfreulicherweise werden die Texte von einer gewissen Frau Cotton Casino nicht stöhnend deklamiert, sondern tatsächlich genreüblich geflüstert oder wie damals innen Sechzigern zu Gitarrenbegleitung sauber eingesungen („Dark Star Blues“). Übrigens ist auch so ein Liedtitel nicht aussagekräftig, der „Dark Star Blues“ ist nämlich eigentlich gar keiner, sondern vielmehr ein Psychedelic-/Spacerock-Lied mit frei drehendem Ende (Vibravoid-Fans: aufgemerkt!). Ähnliches gilt indes auch für die übrigen drei Stücke, wenngleich der Gesang oft völlig in den Hintergrund tritt. Zwischen etwa 16 und fast 20 Minuten liegen die jeweiligen Spieldauern, die mit vielerlei elektronischem Zirpen angereichert werden, und das nicht nur in „Kiss in the Tangerine Dream House“.
Gute Überleitung eigentlich: Anfang 2015 verstarb überraschend Edgar Froese, mit Tangerine Dream einer der Pioniere der deutschen Krautrock-Szene. Vielleicht würde er, wenn er ein verrückter Japaner gewesen wäre, heute so ähnlich klingen. Vielleicht ist das aber auch gar nicht so wichtig, denn in jedem Fall ist das, was die Musiker hier ertönen lassen, ein Fest für die Ohren.
Sozusagen ein Ohrgasmus.
Hörproben: Der „Dark Star Blues“ auf YouTube ist ein empfehlenswerter Einstieg in dieses Album.
Camera – Remember I Was Carbon Dioxide
„We collected the white stones and split them into boxes“ (To the Inside)Apropos Spacerock.
Als ich dieses Album zum ersten Mal gehört hatte und davon erzählte, wurde ich mit der überraschten wie überraschenden Entgegnung konfrontiert, ich höre dann wohl Hipstermusik. Mit Hipstermusik hatte ich bis dahin nur Loungejazz und irgendwelchen Indie-Blödsinn in Verbindung gebracht, nicht aber Musik wie die von Camera. Als ich erleichtert festgestellt hatte, dass mir weder Schal noch Jutebeutel gewachsen waren, beschloss ich dieses Album in diese Liste aufzunehmen.
Camera klingt ja zunächst wie ein Bandname aus den verrockten 70-ern, verbirgt aber ein junges Berliner Trio, das 2014 mit „Remember I Was Carbon Dioxide“ erst sein zweites Album vorgelegt hat. Michael Rother (ehemals Kraftwerk), so heißt es, war positiv überrascht und drängte nach dem Debüt von 2012 auf Zusammenarbeit, aber so sehr nach Autobahn und Model klingt es gar nicht. Die drei Herren – nebst Gastmusikern, darunter eine Sängerin – präsentieren vielmehr einen schnörkellosen, dafür herausragenden Krautrock der Marke Neu! und Amon Düül II, angereichert mit noch weiter reichender kosmischer Musik sowie einer Dosis The Fall.
Über weite Strecken instrumental, aber immer fesselnd kommt diese höchst hörenswerte Mischung aus dem Kopfhörer. Man setzt auf Entspannung, ist sich aber auch für eine gelegentliche Portion Gitarrenfeedback („Vortices“) nicht zu schade. Das vermag zu gefallen.
Das letzte Stück („Hallraum“) und damit das Album endet übrigens mit Plätschern. Nicht, dass noch jemand in den Klangwelten ertrinkt: Dieses Album ist ein Rettungsboot. Frauen und Kinder dürfen auch mitfahren. Volle Kraft voraus.
Hörproben: Schnipsel gibt es auf Amazon.de, das ganze Album zum Beispiel per WiMP.
Cast – Arsis
Nach so viel Weltraum dann doch mal wieder etwas Erdiges zur Reinigung, zur Katharsis gleichermaßen.
Religiös wollen wir nun aber nicht mehr werden, stattdessen geht’s zum Mexikaner. Es gibt eine US-amerikanische Band namens Arsis, die vermeintlich melodischen Metal spielt. Damit haben Cast – der Ziege sei’s gedankt – indes nichts am Hut.
Das Klaviersolo, das das Album eröffnet, mag den Metalfan allerdings noch hoffen lassen, instrumentales understatement ist ein beliebtes Stilmittel in einschlägigen Kreisen. Die nacheinander einsetzenden Musiker an Schlagzeug und Bass sowie die hardrockende Gitarre machen eine Genredistanzierung nicht leicht, wenn man was auf Genres gibt. Das Internet spricht von „Retro-Prog“ und vergleicht „Arsis“ mit Musik der Flower Kings, aber so langweilig ist es nun wahrlich nicht.
Wir haben es mit einem Dreiteiler („La Iliada“, 30:13 Minuten; „The Old Travel Book“, 9:10 Minuten; „El Puente“, 18:32 Minuten) zu tun, wie üblich aufgeteilt in einzelne „Kapitel“. Man neigt zunächst dazu, sich an eine folkbeeinflusste Variante von Rush erinnert zu fühlen, die ja ihrerseits ihren feinen Hardrock oft als „Prog“ etikettiert sehen müssen. Gesungen wird anfangs nicht viel, was dem Kenner gefällt, denn wie auch Italienisch ist die spanische Sprache keine sanfte, Gesang in ihr ist oft ein eher negativer Faktor beim Musikgenuss. Erst in „Old Travel Book“ wird Sänger Bobby Vidales aktiv, zunächst auf Englisch, in „El Puente“ schließlich doch noch auf Spanisch. Zwar klingt es etwas gepresst, aber auf irgendeine Weise doch in positiver Weise einmalig.
Hervorzuheben sei exemplarisch insbesondere das letzte Kapitel „Valle de los Sueños“, das von einem von textlosem Gesang (Lupita Acuna könnte man sich auch mal merken) begleiteten New-Artrock-Teil in – oh doch – gitarrenfixierten Progressive Metal übergeht, der überdies derart abgeht, dass man ihn gar nicht mitbekommt und plötzlich – das Album dauert ja nach Einsetzen dieses Stücks nicht mehr lange – überraschend vermisst; ein überraschendes, aber würdiges Ende für ein gutes Album.
Hörproben: Zu „El Puente“ gibt es einen Live-Videoclip auf YouTube. Er ist gut.
Heisskalt – Vom Stehen und Fallen
„Ihr habt es nicht anders gewollt“ („Nicht anders gewollt“)Mir wird heiß und kalt: Heisskalt ist ein Bandname wie aus der düsteren Mädchengothicszene (Eisbrecher, Eisblume, Unheilig), dahinter verbirgt sich indes eine reizvolle Mischung aus Surrogat’schem Deutschrock und der Nachdenklichkeit von Sport, gesanglich dargeboten mit einer Intensität, die wahlweise von Ira! oder (oder?) The Hirsch Effekt ausgeliehen sein könnte; beziehungsweise:
Mal laut, mal leise stochern wahlweise cleane oder noisig angecrunchte Gitarren auf brüchigem Terrain. Entsteht ein Loch, bricht die Hölle los. Plötzlich wird geschrien, statt geredet, während sich scheppernd produziertes Lo-Fi-Chaos ausbreitet, das jedem Freund harmonischer Klänge den Angstschweiß auf die Stirn treibt. (…) Heisskalt machen ihrem Bandnamen alle Ehre. Hier gibt es kaum Grauzonen. Entweder es brennt lichterloh oder es zwängt sich eine Schicht aus Eis durch die Boxen.
Ich mag Wermut, deswegen benutze ich das Wort „Wermutstropfen“ nicht besonders häufig, aber einen solchen (im wie auch immer negativen Sinne) gibt es schon: Heisskalt gehören zu Sony. Böse Plattenfirma, Kunden verachtende Scheißkerle, aber das Album ist es dann doch beinahe wert. Die vier Stuttgarter, wenngleich nicht vollends fantastisch, liefern zumindest ein fantastisches Debütalbum ab, das deutsche Bands derart klasse schon viel zu lange nicht mehr hinbekommen haben.
Zumal: „So lange der Club nicht voller ist als wir“ („Alles gut“), also Feiern. Kopf in Nick- und Beine in Zappelstellung und los geht’s. Paady, Bitsch. Alles gut?
Hörproben: Amazon.de ist halbminütig hilfreich, bei WiMP gibt’s einen Komplettstream.
Alternative 4 – The Obscurants
Etwas Entspannung nach so viel Rockmusik kann nicht schaden. „The Obscurants“, das – wie so oft in diesem Jahr – zweite Studioalbum von Alternative 4, eignet sich dafür ziemlich gut.
Alternative 4, wohl ohne jeden Bezug zur AfD, ist ein britisches Trio, deren Gründer Duncan Patterson sich vorher bei Anathema, Antimatter und Íon einen Namen gemacht hatte, entsprechend klingt „The Obscurants“ nach einer entschleunigten Version von Anathema, was wiederum passt, denn Letztere haben 1998, in dem Jahr der Trennung von Duncan Patterson, ein Album namens „Alternative 4“ veröffentlichen lassen, womit sich der Kreis schließt.
Sänger Simon Flatley erinnert mich stimmlich an ausgerechnet Campino in den schrecklichen Balladen der Toten Hosen, was hier erstaunlich gut passt und klingt, darüberhinaus wird aber feinste klavierlastige Musik zwischen Ambient und Alternative präsentiert. Mit Rauheit wird gegeizt. Geil.
Alternative 4 zaubern (…) ein wundervolles Album, das (…) in seiner Gesamtheit dem gewillten Hörer wunderschöne Momente bereiten kann.
Wer die Gutelaunemusik der weiter oben genannten Projekte mag und auch auf „The Obscurants“ erwartet, der wird beim Genuss vermutlich enttäuscht werden. Den unvoreingenommenen Hörer erwartet eine angenehme Überraschung.
Hörproben: Amazon.de hält sich leider ein wenig zurück, WiMP jedoch bietet das komplette Album als Stream an.
Aranis – Made in Belgium II
„Das Einzige, was ich mir noch wünsche / ist, so frei zu sein wie ein tolles [Wiehern]“ (Tolles pferd)Völlig anders klingen wiederum Aranis. Aranis aus – ihr ahnt es – Belgien nehmen seit einigen Jahren Musik auf, die ein bisschen nach Jazz klingt, aber eigentlich gar kein Jazz ist. Üblicherweise wird das, was auf diesem zweiten installment von „Made in Belgium“ zu hören ist, als „Kammerrock“ etikettiert, aber so genau nehmen wir es hier ja sowieso nicht mit den Genres.
Ich höre jedenfalls diverse Streicher, ein Klavier, wenig Gesang. Klassik-Rock ganz ohne Geschepper. Freunde von Univers Zéro und Eclipse Sol-Air kommen hier gleichermaßen auf ihre Kosten. Wer darüber hinaus auf die Texte achtet, dem begegnet hier sogar klassisches deutsches Liedgut:
Nein, ich möchte kein Eisbär sein!
„Tolles pferd“ heißt das Stück und klingt mit deutlichem belgischem Akzent noch ulkiger als sowieso. Nicht, dass sie nicht auch ernsthaft könnten! Gesang wird außerhalb dieses Stücks nämlich tatsächlich rar gemacht und nicht vermisst. Er versperrt bei aller Komik doch nur den Blick auf’s Wesentliche, nämlich die Arrangements; die man dann auch für sich sprechen lassen möge. Ein Album für den Ohrensessel, mit Kennerblick und einem feinen Whiskey genossen.
Hörproben: Per Bandcamp.com gibt’s „Made in Belgium II“ zum Hören und Kaufen.
Aviator – Head in the Clouds, Hands in the Dirt
„This isn’t what we signed up for.“ (Dig Your Own Grave (and Save))So sehr ich – regelmäßige Leser wissen das – auch auf Schönklang bedacht bin: Manchmal überkommt auch den Freund gediegener Klänge der dringende Wunsch nach dem Rausschreien des Weltschmerzes; oder des Rausschreienlassens, denn das lässt die Stimmbänder entspannt. „Head in the Clouds, HandsiIn the Dirt“ der Band Aviator scheint prädestiniert, diese Rolle zu übernehmen.
Aviator (weder die Pop- noch die Progressive-Rock-Band gleichen Namens) ist laut Eigenbeschreibung eine „emotional hardcore band“ aus Boston, Massachusetts, also irgendwas mit Emocore. Mag ja sein. A year’s worth of memories poisoning every dream („Head Noise“). Vertonter Aber: Genres sind Wischiwaschi.
Wie’s mir eben auch gerade jetzt nicht darum geht, dieses Album theoretisch zu beschreiben. Die Gefühle zur Musik kennen kein Aber. Axtmusik, Herzmusik, Zerschmettermusik, wie’s beliebt.
Always thought Aviator should get more attention. Das wäre dann erledigt.
Hörproben: Auf YouTube musizieren die Herren sogar sichtbar; Audiostream und ‑kauf gibt’s per Bandcamp.com.
2. Fast ohne Worte.
Univers Zéro – Phosphorescent Dreams
Die Belgier von Univers Zéro sind auch im brutto 40. Jahr ihres Bestehens, wohl nicht zuletzt begünstigt vom sich drehenden Personalkarussell, noch immer nicht müde, hochklassigen instrumentalen Kammerprog (manche mögen’s RIO nennen) aufzunehmen; sehr schön, sehr rhythmisch, sehr hörenswert.
Pavees Dance – There’s Always the Night
Auf diesem halbstündigen Album, auf dem auch Malcolm Mooney (ehemals Can) endlich wieder einmal singend zu hören ist, vermengt das Projekt Pavees Dance um den Schlagzeuger Sean Noonan allerlei Stile von Weltmusik bis Psychedelic Rock zu einem famosen Jazzfunk-Werk, wie es 2014 leider nur viel zu selten zu finden war.
Electric Orange – Volume 10
Wie bereits 2003 erfreuen Electric Orange den Hörer mit krautigem Psychedelic Rock. Geändert hat sich seitdem nur der Schlagzeuger, der jetzt Georg Monheim heißt, ansonsten ist dieses (tatsächlich) zehnte Studioalbum gewohnte Kost – und das ist positiv gemeint. Augen zu und eingetaucht.
Scott Walker + Sunn O))) – Soused
Vor einiger Zeit trafen Sunn O))), ihres Zeichens US-amerikanische Drone-Doom-Musiker von Weltruhm, sich mit dem ähnlich bekannten, aber mit einem gänzlich anderen musikalischen Hintergrund versehenen Solisten Scott Walker (früher Mitglied der Walker Brothers) in einem Studio, um mit „Soused“ eins der durchgeknalltesten Alben des Jahres 2014 aufzunehmen; nicht im schrillen Popsinne zwar, wohl aber bedingt durch die Verschiedenartigkeit der ungleichen Partner. Das beinahe kingcrimsonesque Ergebnis (affektierter Gesang zu sich kaum von der Stelle bewegendem Brummen, nur gelegentlich von Gitarrenriffen unterbrochen) ist schockierend und – wie alles von Sunn O))) – laut noch besser. Maximum volume yields maximum results. Ein guter Rat.
3. Kost‘ ja nix.
- The Echelon Effect – Pacific / Sierra
The Echelon Effect, mir zuerst 2011 aufgefallenes Soloprojekt von David Walters, bleibt hochaktiv: 2014 erschien neben der EP „Sierra“ auch das Album „Pacific“, letzteres in Dreierbesetzung (Steve Tanton half an Schlagzeug und Perkussion aus, Noah Champoux steuerte spoken words bei).
Eine Wüste, ein Meer: Sprechend sind die Titel tatsächlich. The Echelon Effect steht weiterhin für atmosphärischen, teils hypnotischen musikalischen Genuss zwischen den Genres; und auch weiterhin will David Walters dafür kein Pflichtgeld sehen.
„Sierra“ und „Pacific“ gibt’s daher auf eMule sowie per Bandcamp.com ab 0 Euro. Das trifft sich gut, denn gute Musik ist stets eigentlich unbezahlbar. Wer kann, sollte dennoch spenden. Wert ist’s das schon längst.
- Antethic – Origin
Fast wäre der Postrock in diesem Jahr untergegangen. Gerade noch bemerkt! Antethic kommen aus Russland und haben mit „Origin“ 2014 ihr aktuelles Album für lau dem dürstenden, darbenden Publikum vorgestellt. Laut Eigenbeschreibung handelt es sich wahlweise um „Cinematic Rock“, Math Rock, Postrock, Shoegaze oder Ambient-Musik und somit um eine schlechte Eigenbeschreibung.
North Atlantic Oscillation und Pink Floyd dienen anderswo als Vergleich. Ich meinerseits füge vielleicht noch etwas Mike Oldfield und Explosions In The Sky hinzu. Der unbekannte Bassist spielt sich mitunter souverän in den Vordergrund, ohne aufdringlich zu werden, während Schlagzeug und Gitarre(n?) duettieren, vermag aber auch den Rhythmus zu stärken, derweil der Rest der Band hart abrockt. Stücke wie „This Game Has No Name“ versetzen den Hörer so schon nach wenigen Minuten in eine Trance, in der es nur noch die Melodien gibt und alles um sie herum unwirklich erscheint.
„Cinematic Rock“, ein Kino im Kopf. Ein tolles Album mit Suchtpotenzial und Tripgefahr. Guten Flug!
4. Deep Shit.
Es ist nicht alles Gold, was tönt. Auch 2014 war da keine Ausnahme:
- Pink Floyd – The Endless River
Endloses Plätschern. Man schläft ganz gut zu „The Endless River“. - Eatliz – All Of It
Belangloser Schönpop ohne Kanten, Bandcamp rettet’s auch nicht. Die neue Sängerin ist scheiße. - Gazpacho – Demon
Der Dämon des Schlafs überwältichhhhhrrrr… - Transatlantic – Kaleidoscope
Offenbar gibt es Kaleidoskope auch ganz ohne Muster und Farben. Toll! - Archive – Axiom
Spannend wie der Mathematikunterricht. - Flaming Row – Mirage – A Portrayal Of Figures
So klingt es also, wenn man unmotiviert versucht Retroprog zu spielen. Nicht zur Nachahmung empfohlen.
5. Aaaaaaaaaalt!
- Vor 40 Jahren:
Lou Reed – Sally Can’t DanceDenk‘ ich an 1974, denk‘ ich an Richard Nixon (Rücktritt), Helmut Schmidt (Antritt) und Rockmusik. Zwar machten Led Zeppelin in diesem Jahr eine Veröffentlichungspause, dafür trauten sich Kiss mit ihrem Debütalbum Kiss in die Läden. Die damals bereits etablierten Rolling Stones wiegelten ab: It’s Only Rock’n’Roll. Kein Rock’n’Roll hingegen kam von Yes, deren Sänger Jon Anderson in einer Fußnote der „Autobiografie eines Yogi“ einen Hinweis auf die heiligen Schriften des Hinduismus‘ gefunden hatte und dazu inspiriert wurde, ein Album thematisch auf ihnen basieren zu lassen. Tales from Topographic Oceans, vorübergehend das letzte Album mit dem Keyboarder Rick Wakeman, ist ein Doppelalbum mit vier Stücken, was also 4 LP-Seiten entspricht; selbst für Yes‘ damalige Verhältnisse ein derart ambitioniertes Werk, dass die Musikpresse sich mit Lob deutlich zurückhielt. Letztere hatte mit Lou Reed ohnehin einen ungeahnten neuen Favoriten: Sally Can’t Dance erreichte die „Top 10“ der Hitparade, was nach dem düsteren Berlin im Vorjahr wiederum überraschte. Dass die Plattenfirma RCA diesen Karriereschub ausnutzen wollte und ein baldiges Nachfolgealbum forderte, war aus heutiger Sicht eine kommerziell blöde Idee: Mit Metal Machine Music folgte 1975 ein ausgestreckter musikalischer Mittelfinger; doch dazu später mehr.
- Vor 30 Jahren:
Dalbello – whomanfoursays1984 war nicht bloß eine Anleitung oder wenigstens ein Buch, sondern in der Musikwelt vielmehr auch ein Jahr des Schreckens. Von Barclay James Harvest gab es das grauenvolle Victims of Circumstance, das seine Mäßigkeit schon als Titel trägt, Grobschnitt machten sich mit Kinder und Narren zu Letzteren. Talk Talk befanden sich mit It’s My Life auf dem kommerziellen Höhepunkt ihrer Karriere, hatten außer Mainstream-Pop aber noch nicht viel beizutragen. Und dann war da noch Dalbello, eine junge Frau mit einer famosen Stimme und einer ebensolchen Frisur. Das schon mal erwähnte Album whomanfoursays war zugleich ihre Rückkehr ins Musikgeschäft und ihre Erneuerung, denn vom Discopop wandte sie sich nunmehr ab und dem Alternative Rock zu, was das Plastikjahrzehnt dann doch noch ein bisschen zu retten half.
- Vor 20 Jahren:
Subway to Sally – Album 1994Weder mit Yes (Talk) noch mit den Rolling Stones (Voodoo Lounge) war zwanzig Jahre danach noch viel zu gewinnen. Das für lange Zeit letzte Studioalbum von Pink Floyd, The Division Bell, zeugte noch von der einstigen Größe von Bands, deren Mitglieder ihre Instrumente nicht nur einigermaßen gerade in die Kamera halten, sondern auch noch bedienen können; andere Musikstile waren jedoch bereits auf dem Vormarsch: Hyper Hyper, die zweite Single von Scooter, mag dabei eine geschichtlich relevante Rolle gespielt haben, jedoch wurde auch der Metal als Abkömmling des Hardrocks größer: Dimmu Borgirs Debütalbum For all tid wurde zum Eckpfeiler der skandinavischen Black-Metal-Szene, genreüblich mit Verweisen auf Satans Reich („Det nye riket“), etwas weiter südlich veröffentlichte eine Band, die wohl noch nichts davon ahnte, einmal für ein Genre zu stehen, das der Volksmund als „Mittelalter-Metal“ kennt, ebenfalls ihr Debütalbum: Subway to Sallys Erstlingswerk Album 1994, auf dem Eric Fish noch nicht die Rolle des Frontmanns und Sängers innehat, verbindet mit seinen überwiegend englischsprachigen Texten noch nicht viel mit späteren Klassikern wie MCMXCV oder Herzblut, wohl aber legte es den Grundstein für ihre spätere Karriere und wohl auch die jener Bands, die maßgeblich von ihnen beeinflusst wurden. Es hätte schlimmer kommen können.
- Vor 10 Jahren:
Yezda Urfa – BorisEs kam tatsächlich schlimmer: Die Jammerpopband Placebo versuchte es noch einmal mit Gefühl und warf die schreckliche Resteverwertung Once More with Feeling auf den Markt, die übrigen Massen wurden wahlweise mit Franz Ferdinand, Tyrannosaurus Hives, dem Album Louden Up Now der von ihren Anhängern oft für weißwie untergründig gehaltenen Band !!! oder dem unterschätzten D12 World beglückt. Zumindest Haggard hielten mit Eppur Si Muove den Metal noch hoch. Diejenigen, die nicht nach immer schlichteren und schlechteren Tönen suchten, suchten stattdessen ihre Zukunft in der Vergangenheit: Yezda Urfa, eine einst verschmähte US-amerikanische Progressive-Rock-Band der mittleren 1970-er Jahre, traten 2004 auf dem NEARfest auf (seit 2010 gibt es mit Yezdaurfalive einen Beleg dafür zu kaufen), zufällig ist seit jenem Jahr auch Boris, das von Plattenfirmen einst verschmähte Debütalbum von 1975, das in seinen Grundzügen 1976 als Sacred Baboon einer zweiten (Nicht-)Veröffentlichung harrte, für den Plattenkäufer frei erhältlich. Honi soit. Trotz der Wirren um die Veröffentlichung und das etwas schlechte timing, immerhin schien 1975 der Progressive Rock bereits angezählt, platzte dieses Album 2004 äußerst günstig in die Retrowelle hinein. Im Internet beschreibt man Yezda Urfa als „Yes meets Gentle Giant mit Hummeln im Hintern“. Trocken ist diese Musik sicherlich nicht, die Augen bleiben es auch nur schwerlich. Ernsthafter hat der Progressive Rock sich selbst nie wieder persifliert. Sänger Rick Rodenbaugh, der auf dem NEARfeat bereits nicht mehr dabei war, verstarb 2008, seitdem hat man von Yezda Urfa nur noch wenig wahrgenommen. Daran hätten sich andere Bands dieses Jahres zumindest ein Beispiel nehmen können.
So – haben wir’s.
Habe ich ein relevantes Album übersehen oder eines zu Unrecht verrissen? Kommentare und Ergänzungen sind gern gesehen. Ansonsten stehen dieses Jahr ja bereits einige neue bedeutsame Musikalben in den Regalen. Ich freue mich schon auf die nächste Rückschau.
Danke für die Aufmerksamkeit.
ha!
http://hinterwaldwelt.blogspot.de/2014/09/seit-ein-paar-tagen-in-den-zittrigen.html
eine band, die gigs auf dem herrenklo beim bambi spielt, bis die bullen sie abräumen? die klingt wie neu! in den besten tagen? definitiv mein fall!
Hipster!
since 1976.
oder, besser noch: seit dem moment als „the spoon“ in einem durbridge lief … ;-P
ernsthaft: ich war gerade versucht einen artikel von 76 aus einer alten urks zu posten, aber er ist noch nicht gescannt, in der ich einen fuchsteufelwilden rant über leute reite, die anderen die säcke damit vollmachen, wie cool sie zappa finden. den hipster gab’s schon immer und ich denke mal, das ist dieses typisch pubertäre verhalten, mit dem man seine position in der peergroup zu definieren sucht. das ist nur „useful“, wenn man eine solche braucht ;-)
wie auch immer: ist ja alles auch eine frage, was man mag oder nicht. oder eine von geschmack, weil es eben sachen gibt, die jenseits von „mag ich oder nicht“ bemerkenswert sind … und camera ist eben bemerkenswert, weshalb ich mir ja die erste genauso umgehend gekauft habe wie ich „puta’s fever“ von manu negra 1989 (damals noch als import) kaufen musste, weil es am samstag ene sendung in swf2 über die band lief. man hört es, man liebt es ab dem ersten moment eben liebt. so ging’s mir halt auch seinerzeit auch mit yello und camera. ist das hip? ist mir egal … sind alle in meinen 1001 records gelandet, nehme ich mit auf ne insel
ach ja, vor zwei monaten bin ich übrigens über hanni el kathib gestolpert, klingt nach was orientalischem, ist aber eine coole palästinensisch-stämmige gitarrensau aus la. die g*ttlich-kurze & vor allem schräge soli spielt.
konzert: https://www.youtube.com/watch?v=uANYiHx4Vgs (konzert ist immer das wichtigste …)
melt me: https://www.youtube.com/watch?v=hsdh4-jHs4o
moonlight: https://www.youtube.com/watch?v=e00xgN3ER_I
vielleichthast du ja auch spaß an so was
Orientalisch nervt. Mit Yello konnte ich auch noch nie was anfangen, da finde ich Devo deutlich interessanter.