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Musik 12/2015 – Favo­ri­ten und Analyse

Die­ser Arti­kel ist Teil 15 von 26 der Serie Jah­res­rück­blick

Die bis­her schön­ste Nach­richt des Jah­res 2015 war es, dass Phil Coll­ins nie wie­der ein Lied kom­po­nie­ren möch­te. Das ist viel­leicht in der gewal­ti­gen Nach­rich­ten­men­ge völ­lig unter­ge­gan­gen; vor nicht all­zu lan­ger Zeit berich­te­te Ste­fan Nig­ge­mei­er in der „Frank­fur­ter All­ge­mei­nen Zei­tung“ davon, dass Claus Kle­ber anläss­lich sei­ner Hono­rar­pro­fes­sur beklag­te, dass die Jugend zu einem bedeu­ten­den Teil Nach­rich­ten nur noch häpp­chen­wei­se statt in voll­stän­di­ger Dar­bie­tungs­form zur Kennt­nis neh­me; im sel­ben Arti­kel war davon die Rede, dass es Nach­rich­ten also so gehe wie Musik. Offen­sicht­lich ist die Jugend über die Schön­heit aktu­el­ler musi­ka­li­scher Klein­ode gar nicht mehr infor­miert (das liegt bestimmt an den zu kurz zusam­men­ge­fass­ten Nach­rich­ten). Höch­ste Zeit also, dass wir uns wie­der ein­mal mit der pri­ma­sten Musik des Jah­res 2015 befassen.

Wie gewohnt haben auch dies­mal man­che Alben einen zeit­li­chen Vor­sprung, näm­lich die bereits zuvor emp­foh­le­nen neu­en Wer­ke von God­speed You! Black Emper­or, Katie Dey, Grün­lich Grau sowie The Hirsch Effekt; aus dra­ma­tur­gi­schen Grün­den blei­ben sie als Emp­feh­lun­gen bestehen, wer­den aber kein zwei­tes Mal rezensiert.

Apro­pos Drama:

1a. Musi­ka­li­sche Kleinode

  1. Mag­ma – Šlağ Tanz

    „Schlag­tanz“? Nein, kei­ne Sor­ge, mit Folk möch­te ich euch noch nicht schockie­ren. Mag­ma haben nach ihrem bis­lang letz­ten Opus Magnum „Ëmëhn­tëhtt-Ré“ aus dem Jahr 2009 eine tur­bu­len­te Ver­öf­fent­li­chungs­po­li­tik geführt: Mit „Féli­ci­té Thösz“ kam 2012 ein (für Band­ver­hält­nis­se) ziem­lich fröh­li­ches Qua­si­po­p­al­bum her­aus, 2013 und 2014 jeweils ein Live­al­bum aus unter­schied­li­chen Ban­depo­chen, zuletzt 2014 mit „Rïah Sahïl­taahk“ eine EP, die das gleich­na­mi­ge Stück von 1971 als neu­es Arran­ge­ment ent­hielt. Jetzt also „Šlağ Tanz“.

    Mit nicht ein­mal 21 Minu­ten Lauf­zeit wäre es viel­leicht ver­mes­sen, hier wie­der von einem „Album“ zu spre­chen; aber so lan­ge die Qua­li­tät stimmt, wol­len wir uns mal nicht beschwe­ren. Außer­dem haben wir es hier immer­hin mit dem ersten mehr oder weni­ger neu­en out­put im guten, alten hym­nisch-repe­ti­ti­ven Zeuhl-Stil seit 2009 zu tun.

    Die Beset­zung hat sich nicht geän­dert, das Oktett von „Rïah Sahïl­taahk“, des­sen Kern (Chri­sti­an Van­der, Stel­la Van­der, Isa­bel­le Feuil­le­bo­is, James Mac Gaw, Phil­li­pe Bus­son­net) seit der Stu­dio­reuni­on von 1998 („Floë Ëssi / Ëktah“) gemein­sam spielt, trat also auch hier wie­der zusammen.

    Von „Jazz Metal“ spricht ein Auf­kle­ber, aber mit Metal haben wir es hier zum Glück auch wei­ter­hin nicht zu tun, son­dern mit dem musi­ka­li­schen Gegen­stück zu „Féli­ci­té Thösz“, das bereits vor vier Jah­ren auf Kon­zer­ten den Kon­trast zum damals eben­falls neu­en „Šlağ Tanz“ bil­de­te, des­sen Dis­so­nanz und har­sche Rhyth­mik dem alten Mag­ma-Hörer wohl zu gefal­len ver­mö­gen. Wie King Crims­on haben es indes auch Mag­ma nie geschafft, ihren ersten Sän­ger (sei­ner­zeit Klaus Blas­quiz) im Lau­fe der Jah­re adäquat zu erset­zen, Her­vé Aknin into­niert unge­wöhn­lich exal­tiert und lässt Mag­ma in schwä­che­ren Momen­ten eher ita­lie­nisch klin­gen, was, wie regel­mä­ßi­ge Leser wis­sen, in der Pro­gres­si­ve-Rock-Sze­ne san­ges­tech­nisch von min­de­rer Güte scheint; in den stär­ke­ren aber freu­en wir uns, dass Mag­ma mit dem her­aus­ra­gen­den Bas­si­sten Phil­li­pe Bus­son­net und eben auch Her­vé Aknin eine Erneue­rung erfah­ren haben, die erfreu­lich ist. Mag­ma blei­ben sich musi­ka­lisch viel­leicht auch wegen der neu­en Köp­fe noch im 46. Jahr ihres Bestehens treu, ohne sich zu wie­der­ho­len. Mir gefällt’s.

    Hör­pro­ben: Auf You­Tube lässt sich in „Šlağ Tanz“ hin­ein­hö­ren, auf Amazon.de gibt es Kauf- und Hörschnipselmöglichkeiten.

  2. –isq – Too
    „So the dar­kest of places has room for a light“ (Tears of a Clown)

    Oh, ist das schön. Wirk­lich, wirk­lich schön.

    Das Lon­do­ner Quar­tett mit dem eigen­ar­ti­gen Namen –isq, das in lau­ni­ger Stim­mung auch schon mal Nir­va­na covert, lässt mich mit sei­nem zwei­ten (haben wir hier etwa ein Wort­spiel ver­steckt?) Album „Too“ ver­ge­bens nach geeig­ne­ten Syn­ony­men suchen, was man einer Jazz­com­bo, deren Pia­nist, wie man vie­ler­orts liest, bereits mit aus­ge­rech­net Björk zusam­men­ge­ar­bei­tet hat­te, eigent­lich nicht zuge­traut hät­te, aber was wäre Musik ohne Überraschungen?

    Melan­cho­lie fasst „Too“ mög­li­cher­wei­se gut zusam­men, gebro­che­ne Her­zen ste­hen Pate für Tex­te und Musik. Die mir bedau­er­li­cher­wei­se zuvor völ­lig unbe­kann­te Sän­ge­rin Ire­ne Ser­ra, gebo­ren in Ita­li­en, auf­ge­wach­sen in Däne­mark und reüs­siert in den Jazz­clubs Groß­bri­tan­ni­ens, trägt ihren Teil dazu bei, sie singt mit einem Welt­schmerz, dass es einem bei­na­he frö­steln wür­de, aber die Gän­se­haut ist eine wär­me­re, ange­neh­me­re; will sagen: Fes­sel­spiel­chen für die Ohren.

    Dabei unter­schei­den sich die Stücke eigent­lich nur in der Inten­si­tät; behut­sam und zurück­hal­tend wie das bei­na­he mini­ma­li­sti­sche „The Bird Has Flown“, soul­schwan­ger wie das bedrücken­de „Fal­ling Stars“ oder ergrei­fend wie das längst ohr­wurm­taug­li­che bis ‑grenz­über­schrei­ten­de „Zion“, jedes Stück trägt sei­ne eige­ne Signa­tur und bleibt den­noch ein Stein im Mosaik.

    „Too“ ist wie ein Musik gewor­de­ner Abend im Ohren­ses­sel mit einem Glas besten Sin­gle Malts.

    Habe ich schon erwähnt, wie schön es ist?

    Hör­pro­ben: Auf You­Tube gibt es zum Bei­spiel ein Video zu „Zion“ sowie eine Live­dar­bie­tung von „Fal­ling Stars“ anzu­se­hen. Wer es ohne­hin nicht so mit Hand­fe­stem hat, der kann auf Amazon.de das Album im MP3-For­mat kaufen.

  3. The Bri­an Jone­stown Mas­sacre – Musi­que de Film Imaginé

    Nicht, dass ihr mir hier noch ein­schlaft vor lau­ter Ruhe: The Bri­an Jone­stown Mas­sacre haben gera­de mal ein Jahr nach dem Vor­gän­ger­al­bum „Reve­la­ti­on“ wie­der nach­ge­legt und prä­sen­tie­ren nun­mehr „Musik für einen ein­ge­bil­de­ten Film“, wobei das ja nur zum Teil so stimmt.

    Zum Einen näm­lich hat, wie es heißt, Anton New­com­be das Album nur mit den Gast­mu­si­ke­rin­nen Sté­pha­nie „Soko“ Soko­lin­ski (einer wohl nicht ganz unbe­kann­ten Goth-Pop-Musi­ke­rin) und einer gewis­sen Ita­lie­ne­rin namens Asia Argen­to zusam­men auf­ge­nom­men, womit es unter dem Band­na­men The Bri­an Jone­stown Mas­sacre eigent­lich for­mell falsch auf­ge­ho­ben ist, zum Ande­ren gibt es mit der Pari­ser Film­kul­tur der 1950-er Jah­re offen­bar ein rea­les Vor­bild. Das näm­lich hat die „Musi­que de Film Ima­gi­né“ mit man­cher­lei Album von Mog­wai gemein: Das gan­ze Werk ist eigent­lich ver­ton­tes Kino. Sein Schöp­fer gab hier­zu zu Protokoll:

    Das Album, das Sie gleich hören wer­den, ist eine Ton­spur, mei­ne eige­ne Krea­ti­on, ein Tri­but den groß­ar­ti­gen Regis­seu­ren und Film­ma­chern aus einer Ära, die nun hin­ter uns zu lie­gen scheint. Es ist den Klu­gen über­las­sen, sich vor­zu­stel­len, dass die­se Kunst nun­mehr im Schat­ten sei­ner frü­he­ren Glo­rie lie­gen könn­te. Das Inter­es­san­te an die­sem Pro­jekt ist aller­dings, dass auch der Film nicht exi­stiert. Trotz­dem habe ich mir sei­ne Ton­spur aus­ge­dacht und sie umge­setzt… Nun sind Sie an der Rei­he, Sie als Zuhö­rer müs­sen sich den Film vorstellen.

    Was auch erklärt, wie­so sel­ten und dann auch noch aus­ge­rech­net auf Fran­zö­sisch gesun­gen wird. Ana­log zum film noir steht mir der Sinn danach, hier von musi­que noi­re (nicht aber von der gleich­na­mi­gen Band) zu reden. Am Ende, so schreibt’s das Inter­net, sei alles Oboe und Fagott; ein expres­sio­ni­sti­sches Mei­ster­werk in Noten oder ein ver­ton­tes Dra­ma des gro­ßen fran­zö­si­schen Films. Nach sech­zig Jah­ren war eine sol­che Hom­mage, ande­rer­seits, wohl überfällig.

    Hör­pro­ben: Auf Amazon.de gibt es halb­mi­nü­ti­ge Hör­pro­ben zu, nun, hören. 

  4. Arca­ne – Known/Learned

    Von fran­zö­si­scher Düster­heit ist es ein immer noch wei­ter Weg zu austra­li­schem Pro­gres­si­ve Metal, aber da’s drau­ßen gera­de Wan­der­wet­ter ist, neh­men wir das mal auf uns.

    Mit „Known/Learned“ haben Arca­ne ein Dop­pel­al­bum ver­öf­fent­licht, des­sen erste Sei­te („Known“) die här­te­re dar­stellt. Mög­li­cher­wei­se ist der Titel so zu inter­pre­tie­ren, dass man den Pro­gres­si­ve Metal von der Band schon kann­te und nun auch noch die zwei­te Sei­te („Lear­ned“) in Form von ziem­lich über­zeu­gen­dem Pro­gres­si­ve und/oder Alter­na­ti­ve Rock ken­nen lernt. Nun sind 2015 schon fast zwei Stun­den Lauf­zeit ziem­lich viel, das Publi­kum ver­liert ja mit den Jah­ren an Auf­merk­sam­keit, also muss man es span­nend hal­ten. Arca­ne schaf­fen das übrigens.

    Aber fan­gen wir mal vorn an: „Known“ ist tat­säch­lich nichts Neu­es, Pro­gres­si­ve Metal mit ordent­lich Gitar­re, Schlag­zeug und Kla­vier­klän­gen. Das heißt natür­lich kei­nes­falls Lan­ge­wei­le, lang­wei­li­gen Pro­gres­si­ve Metal gibt es wahr­lich zur Genü­ge. Arca­ne machen vie­les anders, ange­fan­gen beim ange­nehm unan­stren­gen­den Gesang bis hin zur merk­wür­di­gen Ver­schrän­kung der bei­den Tei­le inein­an­der; so gibt es auf „Known“ einen 23-minü­ti­gen Pro­gres­si­ve-Metal-longtrack namens „Lear­ned“ und auf „Lear­ned“ ein fast drei­mi­nü­ti­ges Schmacht-Pop­stück namens „Known“. Das letz­te Stück auf „Lear­ned“ heißt „Pro­mi­se (Part 1)“ und das erste auf „Known“ „Pro­mi­se (Part 2)“. Wo ist hier der Anfang, wo ist hier das Ende? Viel­leicht ist „Known/Learned“ auch ein End­los­al­bum, das wäre mal erfri­schend. Trotz­dem wird es Zeit für einen Scheibenwechsel.

    „Lear­ned“ erin­nert mich, so weit es mei­ne Noti­zen her­ge­ben, an die fürch­ter­li­chen Pla­ce­bo, aller­dings ohne den Jaul­ge­sang, der die Fürch­ter­nis erst her­vor­ruft. Mit­un­ter schei­nen echo­lyn durch, der jaz­zi­ge Bass der mei­sten Stücke fügt eine wei­te­re inter­es­san­te Nuan­ce hinzu.

    Wo Pain of Sal­va­ti­onqua­li­ta­tiv noch gehö­rig schei­ter­ten, beim Umschwen­ken von Metal auf Art­rock näm­lich, machen Arca­ne vie­les ein­fach rich­tig. Eine hör­bar gereif­te Band lotet ihre Gren­zen aus, ohne sie zu über­schrei­ten, und weiß mit unge­wohn­ten Klän­gen posi­tiv zu über­ra­schen. Wie wohl der Nach­fol­ger klin­gen mag? Die­ses Album jeden­falls ist bereits ein feines.

    Hör­pro­ben: Amazon.de hat halb­mi­nü­ti­ge Schnip­sel auf Lager, einen Kom­plett­stream gibt es auf You­Tube und zum Bei­spiel TIDAL. Viel Vergnügen.

  5. Pais­ley Tree – Pais­ley Tree

    Zurück nach Deutsch­land: Über Wein­heim in Baden-Würt­tem­berg ist nicht viel bekannt, den­noch gibt es dort offen­sicht­lich eine als kul­tu­rell zu ver­ste­hen­de Sze­ne, die in jün­ge­rer Ver­gan­gen­heit offen­sicht­lich ein wenig aus­zu­ufern begon­nen hat.

    Die Krautrock­band Space Debris zum Bei­spiel, die erst 2014 ihr aktu­el­les Stu­dio­al­bum „Pho­no­mor­pho­sis“ ver­öf­fent­licht hat, behaup­tet von dort zu stam­men. Ande­re Bands brau­chen viel Zeit zwi­schen zwei Stu­dio­al­ben, Space Debris aber schei­nen die Krea­ti­vi­tät gera­de­zu aus­zu­strah­len. Nur nicht rasten, nur nicht ruhen. Kur­zer­hand wur­de – sozu­sa­gen als Neben­pro­jekt – vom Schlag­zeu­ger Chri­sti­an Jäger gemein­sam mit der gele­gent­li­chen Sän­ge­rin Magic Petra (was für ein obsku­rer Name!) die Band Pais­ley Tree gegründet.

    Musi­ka­lisch ist Pais­ley Tree wie auch die Stamm­band tief in den musi­ka­li­schen 70-ern ver­wur­zelt, bedient aller­dings eher die Hard­rock- als die Hip­pie­kli­en­tel. Auf Key­boards wird aller­dings ver­zich­tet, Magic Petra spielt, wenn sie gera­de nicht singt, statt­des­sen Mund­har­mo­ni­ka. Moment, Mundharmonika?

    Nein, dies ist kein Folk, wie ihn Bob Dylan einst spiel­te, dies ist Post­hard­sto­ner­rock mit dem gewis­sen Extra, als wür­den die alten Her­ren von Cream noch mal LSD ein­wer­fen und losjam­men. Fast am Ende und doch irgend­wie im Zen­trum steht das zehn­mi­nü­ti­ge „Dop­pel­stück“ „Far Away & Colour Trip“, des­sen Name allein bereits Charme ver­sprüht und das ich hier ein­fach ein­mal als Bei­spiel anfüh­ren möch­te. Wer aber auf­grund des Titels blo­ße unin­spi­rier­te Blu­men­kraft-Hym­nen erwar­tet, der liegt doch etwas dane­ben. Es beginnt mit einer guten alten Blues­rock-Gitar­re, erin­nernd an frü­he Glanz­ta­ten der Rol­ling Stones, bis „Magic Petra“ druck­voll, aber hip­pie­esk ihre Stim­me ertö­nen lässt – halt: Duett­ge­sang (lei­der ist nicht ersicht­lich, wel­chem der drei Her­ren die zwei­te Stim­me inne­wohnt) kann sie auch – und nach gera­de ein­mal zwei­ein­halb Minu­ten eine bridge auf der Mund­har­mo­ni­ka erklin­gen lässt. Mit Stücken wie die­sem könn­te man einen Film über die Jugend der spä­ten 1960-er Jah­re eigent­lich recht gut unter­ma­len. Und Gitar­ren­so­li, immer wie­der fei­ne Gitar­ren­so­li, beglei­tet von einem ange­nehm zu hören­den, druck­vol­len Bass und einem Schlag­zeug, des­sen Beset­zer Chri­sti­an Jäger auf einen 4/4‑Takt erfri­schend wenig Wert legt.

    In den von den Musi­kern selbst gewähl­ten tags für „Pais­ley Tree“ sind Jef­fer­son Air­plane, Led Zep­pe­lin, gara­ge rock und Wein­heim. Ich wage kei­ne Einwände.

    Hör­pro­ben: Das gan­ze Album lässt sich auf Bandcamp.com voll­stän­dig anhö­ren, auf Amazon.de gibt es Vinyl und CD dazu.

  6. Jule­ah – Melt Insi­de The Sun
    „Joyful wea­ri­ness is my reward, and the wild machi­ne I turn into“ (Wild Machine)

    Ein Gutes, immer­hin, hat es, dass Band­camp wie­der­keh­ren­de Nut­zer gele­gent­lich per E‑Mail über inter­es­san­te neue Musikal­ben infor­miert – auf die­se oder eine ähn­li­che Art wur­de ich auf das dies­jäh­ri­ge Album „Melt Insi­de The Sun“ der Öster­rei­che­rin Julia Hum­mer ali­as Jule­ah – regel­mä­ßi­ge Leser haben schon mal was von ihr gehört – aufmerksam.

    Wie pas­send doch zur dies­jäh­ri­gen Hit­ze­wel­le die­ses Album benannt ist, ist zum Zeit­punkt die­ser Nie­der­schrift zwar wahr­schein­lich nur noch eine schwä­cher wer­den­de Erin­ne­rung, aber die Psy­che­de­lik des Bil­des vom Zer­flie­ßen bleibt Pro­gramm. Die Raveo­net­tes sind hier so prä­sent wie die spä­ten Talk Talk, der Gesang selbst ist aller­dings so viel­schich­tig wie ich es sel­ten gehört habe. Wer eine ange­neh­me Sing­stim­me bei Solo­mu­si­ke­rin­nen heut­zu­ta­ge oft ver­misst: Hier habt ihr euer Gegenbeispiel.

    Trotz­dem ein Fokus auf die Musik, denn die ist kei­nes­wegs nicht der Rede wert. Von einem „Kalei­do­skop für [die] Ohren“ spricht die Plat­ten­fir­ma, der „New Musi­cal Express“ sie­delt Jule­ah dort an, wo Maz­zy Star und die bri­ti­schen Shoe­ga­zer von Ride ein­an­der tref­fen. Mark Simpson ent­deckt dar­über hin­aus Ähn­lich­kei­ten mit Led Zep­pe­lin, T. Rex und Tina­ri­wen, wobei ich mit letz­te­ren bei­den Bands nicht aus­rei­chend ver­traut bin. Klar ist: Hier obsiegt, was die Künst­le­rin selbst als Dre­am­pop bezeich­net und unser­eins als Stoner-Rock zu ken­nen meint.

    Augen zu und nicht durch, son­dern mit­ten rein. Ein musi­ka­li­scher Som­mer auch im Winter.

    Hör­pro­ben: Erfreu­li­cher­wei­se ist das kom­plet­te Album auf Bandcamp.com zu hören.

  7. Ra – Scandinavia

    Apro­pos psychedelisch.

    Ra, einer der Namen des alt­ägyp­ti­schen Son­nen­gotts, hat in der Musik eini­ge Spu­ren hin­ter­las­sen, die bekann­te­sten Ver­tre­ter sind mög­li­cher­wei­se die bel­gi­sche Band Amen­ra und die Jazz­le­gen­de Sun Ra. Im eher küh­len Mal­mö hat man indes dar­auf ver­zich­tet, die Ver­bin­dung zur Son­ne all­zu deut­lich her­vor­zu­he­ben; das Quar­tett, das in die­sem Jahr nach lan­gem War­ten ihr Debüt­al­bum namens „Scan­di­na­via“ ver­öf­fent­lich­te, nennt sich schlicht Ra.

    Neben­bei straft die Band all jene Lügen, die bis­lang dach­ten, aus Schwe­den kämen aus­schließ­lich Metal­bands, wie Peter mit sei­nem gewohnt guten Gespür bereits feststellte:

    Zu hören gibt es Musik in Schwarz, druck­vol­len, lär­men­den Post-Punk und psy­che­de­li­schen Shoe­ga­ze, schram­meln­de Gitar­re, Feed­back­or­gi­en, rabia­ten Gesang und ein paar wirk­lich ein­gän­gi­ge Hymnen.

    Ver­glei­chen möch­te ich Ra mit Joy Divi­si­on und den Smit­hs und tu‘ damit wenig­stens allen Genann­ten glei­cher­ma­ßen Unrecht, weil hier die melan­cho­li­sche Note erfreu­li­cher­wei­se völ­lig fehlt. Ra, das ist bret­tern­der Post­punk mit viel Hall und, weil’s so sel­ten zutrifft, mit Eiern. Sehr lobenswert.

    Hör­pro­ben: Bei TIDAL gibt es das Album zum Kom­plett­hö­ren, ein­zel­ne Stücke gibt es auch bei Sound­Cloud. Fanrastisch. (Ent­schul­di­gung.)

  8. Black Space Riders – Refugeeum

    Die Black Space Riders sind eine mitt­ler­wei­le fünf­köp­fi­ge Space-Rock-Band aus Mün­ster, die nach dem Ein­tritt von Sän­ger und Tex­ter „Seb“ 2014 ihr drit­tes Album „D:REI“ ver­öf­fent­licht hat­te, das über­wie­gend auf posi­ti­ve Kri­tik stieß.

    Hier also liegt ihr aktu­el­les Werk vor. Weni­ge Titel könn­ten 2015 aktu­el­ler sein als „Refu­ge­e­um“, offen­sicht­lich ein Kof­fer­wort aus „Refu­gee“ („Flücht­ling“) und „Refu­gi­um“ („Zuflucht“).

    Das sei kein Zufall, behaup­tet die Band:

    REFUGEEUM, wie in „refu­gees“ wie auch in „Refu­gi­um“. Tief bewegt davon, was der­zeit auf die­sem Pla­ne­ten geschieht, hat die Band ihre Wan­de­run­gen durch den Welt­raum zumin­dest the­ma­tisch ver­las­sen und sich statt­des­sen einem irdi­schen, ewi­gen Pro­blem zuge­wandt; einem Pro­blem, das trau­ri­ger­wei­se wie­der aktu­ell ist: Flucht und Ver­trei­bung – Ver­lust der Hei­mat – abgrund­tie­fes Leid – der Wil­le zu über­le­ben – Hoff­nung für das, was kom­men mag – Gejag­ter und Jäger – Opfer und Täter – Akzep­tanz und Zurückweisung.

    (Frei über­setzt von mir.) Von einer ver­ton­ten Flücht­lings­kri­se zu spre­chen wäre aller­dings hier durch­aus ver­fehlt, dafür ist es zu angenehm.

    Obwohl man ja zunächst ein­mal gar nicht so genau weiß, wohin man hier flüch­ten soll, lau­ert doch gleich­sam an jeder Ecke eine neue (meist posi­ti­ve) Über­ra­schung. Und die Tex­te, die Tex­te. „My dear, what hap­pen­ed to us when the mad­ness began?“ („Uni­ver­sal Blood­li­nes“). Wisst ihr noch, wo ihr wart? Man traut sich ja fast nicht, hier mit leicht ver­dau­li­chen Eti­ket­ten um sich zu wer­fen, weil es zwi­schen psy­che­de­li­schem Metal („Vor­tex Sun“), Tin­der­sticks-Stim­mung und Talk-Talk-Post­rock, wie einst bei Yes vor­ge­tra­gen von einer Dop­pel­spit­ze („Seb“ und „Je“), hier eine Men­ge zu ent­decken gibt.

    Das über­las­se ich dann ein­fach mal euch.

    Hör­pro­ben: Einen Stream des Albums hält Bandcamp.com vor­rä­tig. Natür­lich mit Tex­ten. Rein­hö­ren und Mit­le­sen sind empfohlen.

  9. Boris – asia

    Vor­hin noch waren wir in Scan­di­na­via, nun wech­seln wir den Kon­ti­nent. Eine musi­ka­li­sche Welt­rei­se bringt manch­mal über­ra­schend schnel­len Fortschritt.

    Die Gen­reigno­ran­ten Boris sind regel­mä­ßi­gen Lesern mei­ner Tex­te wahr­schein­lich bekannt. 2015 leg­ten die Japa­ner wie­der ein­mal nach, dies­mal mit ihrem immer­hin schon zwei­und­zwan­zig­sten Stu­dio­al­bum, das aus nur drei Stücken besteht und, limi­tiert auf 1.000 phy­si­sche Exem­pla­re, gemein­sam mit den am sel­ben Tag ver­öf­fent­lich­ten 20. und 21. Stu­dio­al­ben „war­path“ und „urban dance“ aus­schließ­lich auf Kon­zer­ten und im Online­la­den der Plat­ten­fir­ma Inoxia zu haben ist. Groß­buch­sta­ben sind so 90er bezie­hungs­wei­se auch nicht; in der „Design­spra­che“ von Boris ste­hen Groß­buch­sta­ben für Rock­mu­sik und Klein­buch­sta­ben für Expe­ri­men­tel­les. Das klingt doch viel ver­spre­chend. Wer aus fol­gen­der Rezen­si­on her­aus ein Inter­es­se an „asia“ ent­wickelt, dem sei­en inso­fern auch die ande­ren bei­den Alben angeraten.

    Aller­dings beginnt es erst mal bedäch­tig. Die Zusam­men­ar­beit mit Sunn O))) hat offen­bar Spu­ren hin­ter­las­sen. „Ter­ra­cot­ta War­ri­or“ beginnt mit anschwel­len­dem elek­tro­ni­schem Brum­men, es gesel­len sich Effek­te hin­zu. Irgend­wie bedroh­lich. Minu­ten­lang pas­siert also einer­seits eine Men­ge und ande­rer­seits eigent­lich nicht viel, bis die sum­men­de Höl­len­ma­schi­ne all­mäh­lich die Fahrt durch eine Gei­ster­bahn auf­nimmt. Eigen­ar­ti­ges instru­men­ta­les Fle­hen reißt den Hörer aus der Ver­wir­rung oder macht sie voll­stän­dig. Eine schnei­den­de E‑Gitarre legt sich lang­ge­zo­gen über die sich vor dem gei­sti­gen Auge lang­sam aus­brei­ten­de futu­ri­sti­sche Wüsten- und Gei­ster­stadt. Von bei­den Sei­ten heu­len eigen­ar­ti­ge Winde.

    Plötz­lich: Merk­wür­dig ver­zerr­tes Was­ser­rau­schen. Die Gei­ster­bahn hat Wild­was­ser erreicht. Unru­hig schwap­pen die Wel­len an den Rän­dern hoch, man ahnt, dass ein Was­ser­fall nicht fern ist. Das Was­ser wird schnel­ler, immer schnel­ler und – Stil­le, durch­schnit­ten von Kla­ge­lau­ten. Das Schlag­zeug spielt einen sanf­ten Rhyth­mus wie zur Ret­tung, aber man kann sich nicht fest­hal­ten, wird erdrückt von der unheim­li­chen, beben­den Welt, die sich um einen her­um auf­türmt. Man ver­liert die Ori­en­tie­rung und schließ­lich das Bewusst­sein. Wie­der: Stille.

    Das fol­gen­de „Ant Hill“ reißt aus der Trance. Die 80-er sind da, sie wol­len ihre Elek­tro­nik zurück­ha­ben? Nein, nein – dies ist, tat­säch­lich, ein ver­ton­ter Amei­sen­hü­gel. Es zirpt in höch­sten Tönen, die Elek­tro­nik knat­tert, und irgend­wo ist wie­der die­ser bedroh­lich-futu­ri­sti­sche Grund­ton. Man ist unver­se­hens umge­ben von rie­si­gen Amei­sen­ro­bo­tern; die aller­dings immer­hin im Gleich­schritt zu mar­schie­ren imstan­de sind. Was ist die­ses Brum­men? Instink­tiv blickt man sich um, ob nicht noch eine gro­ße Flie­ge lau­ert, aber es sind Amei­sen, nur Amei­sen. Die hal­ten einen aller­dings nicht gefan­gen, man ist viel­mehr zu Gast: In „Tal­ka­ti­ve Lord vs Silent Master“ bekommt man schließ­lich sogar die Gele­gen­heit, einem eigen­ar­tig metal­li­schen, elek­tro­ni­schen Zwie­ge­spräch ihres Herrn auf einer stür­mi­schen Anhö­he nahe der Gei­ster­stadt zu lau­schen. Das Album endet abrupt nach einem Mono­log des „Silent Masters“. Der Hörer bleibt in die­ser Welt, obwohl ihre Geschich­te längst vor­über ist.

    Kei­nes­wegs ist „asia“ irgend­wie als easy listening zu eti­ket­tie­ren. Klau­stro­pho­bie und Depres­si­on sind Neben­wir­kun­gen, die ich für nicht voll­kom­men aus­ge­schlos­sen hal­te. Es ist nichts­de­sto­we­ni­ger sehr wahr­schein­lich ein her­vor­ra­gen­des Album im rich­ti­gen Moment. Ich brau­che jetzt aber erst mal einen Schnaps.

    Hör­pro­ben: „Voo-Vah“ vom Album „war­path“ könn­te einen Ein­druck ver­mit­teln, „asia“ jedoch ist sein Super­la­tiv. Seid vorsichtig.

  10. Agent Fres­co – Destrier
    „I see your ghost / it finds no rest / lea­ning clo­se / from crest of bed“ (Pyre)

    Zu den Publi­kums­lieb­lin­gen des Jah­res 2015 gehör­ten in man­cher­lei Krei­sen die fin­ni­sche Band Agent Fres­co, die mit Destrier in die­sem Jahr ihr zwei­tes Stu­dio­al­bum ver­öf­fent­licht hat. Die Ent­ste­hungs­ge­schich­te ist wie schon die zum Debüt­al­bum, in dem Sän­ger Arnór Dan den Tod sei­nes Vaters ver­ar­bei­te­te, groß: Er erzählt hier­zu, er sei vor eini­gen Jah­ren, nach­dem er dem Ver­neh­men nach Opfer von Gewalt gewor­den war, in Zorn und Panik ver­fal­len, wäh­rend er Lie­der für die­ses Album schrieb, und habe die Gele­gen­heit genutzt, die auf­ge­stau­ten Gefüh­le in die Musik zu kana­li­sie­ren. Das ist ja auch nicht immer verkehrt.

    Der Anfang von „Destrier“ erin­nert mich an Slint und auch an eine opti­mi­sti­sche Vari­an­te der Geschich­te von Boris: Wie­der wächst die Musik mit lang­ge­zo­ge­nen Tönen lang­sam an, explo­diert jedoch nicht in einer gewal­ti­gen Erup­ti­on, son­dern in etwas, was ich als Lis Er Stil­le mit New-Wave-Gesang beschrei­ben wür­de, also dem der 1980-er Jah­re. Post­rock trifft Hard­rock, wenn man es ein­mal auf Gen­risch aus­drücken möchte.

    Neh­men wir als Bei­spiel ein­mal das gera­de mal andert­halb­mi­nü­ti­ge Stück „Angst“, ange­sichts der Ent­ste­hungs­ge­schich­te des Albums womög­lich sowie­so schon nament­lich inter­es­sant: Auf einem selt­sa­men Takt, gespielt von einem irr­lich­tern­den Schlag­zeug, dreht ein mars­vol­taes­quer Gitar­rensound voll­kom­men durch. Jetzt weiß ich auch wie­der, wor­an mich Arnór Dan erin­nert: Jene bedau­er­li­cher­wei­se auf­ge­lö­ste Band hat­te mit Ced­ric Bix­ler-Zava­la einen stimm­lich nicht unähn­li­chen Sän­ger in den eige­nen Reihen.

    Das Maga­zin „New Noi­se“ atte­stiert „Destrier“ einen „Wow-Fak­tor“ (ebd.), 10 von 10 Punk­ten gibt’s auch auf metal.de:

    Das Fun­da­ment bil­den erneut expe­ri­men­tel­le, sphä­ri­sche Rock­klän­ge, wel­che Agent Fres­co um Nuan­cen aus den Berei­chen Metal, Jazz und Ambi­ent erwei­tern. So gesel­len sich zu ker­ni­gen, ein­dring­li­chen Riffs („Howls“, „See Hell“) immer wie­der per­len­de Pia­no­läu­fe wie im her­aus­ra­gen­den „Dark Water“, ver­track­te Rhyth­men und Math­co­re-Rebel­len­tum („Angst“ – so hart klan­gen Agent Fres­co noch nie) sowie unwi­der­steh­lich islän­di­sche Sound­track-Erup­tio­nen wie im packend-epi­schen Ope­ner „Let Them See Us“ und dem ver­träum­ten „Death Ratt­le“. Das akku­rat groo­ven­de und vie­schich­ti­ge „Wait For Me“ sowie das mit betö­rend ein­gän­gi­gem Refrain aus­ge­stat­te­te „The Autumn Red“ sind wei­te­re Höhe­punk­te der Track­list. Im Titel­stück wie­der­um über­rascht der Vie­rer zwi­schen getra­ge­nen Pas­sa­gen mit Noi­se-Anlei­hen und wuch­tig-ver­track­tem Gelärme.

    Ich hätt’s kaum bes­ser aus­drücken können.

    Hör­pro­ben: Ein „offi­zi­el­les Video“ zu „See Hell“ gibt es auf YouTube.com, Nut­zer von TIDAL kön­nen das gan­ze Album strea­men. Für kur­ze Hör­pro­ben indes mag Amazon.de genügen.

  11. Her Name Is Cal­la – A Wave of Endor­phins OST

    Kom­men wir nun zu etwas völ­lig Anderem.

    Die bri­ti­sche Aus­nah­me­for­ma­ti­on Her Name is Cal­la ist regel­mä­ßi­gen Lesern seit eini­gen Jah­ren nicht mehr völ­lig unbe­kannt. Kann trau­ri­ge Musik glück­lich machen? Nun, sie kann. Offen­sicht­lich emp­fin­den ziem­lich vie­le Men­schen Ähn­li­ches, so dass die Band bis heu­te nicht nur Bestand hat, was ja heut­zu­ta­ge nicht mehr selbst­ver­ständ­lich ist, son­dern in die­sem Jahr oben­drein das Jubi­lä­um zehn Jah­ren gemein­sa­men Musi­zie­rens bege­hen kann.

    Man­che las­sen sol­che Regel­mä­ßig­kei­ten unge­hört ver­strei­chen, Her Name is Cal­la hau­en auf die Kacke: Es gab eine Doku­men­ta­ti­on, drei Son­der­kon­zer­te, ein Album zur Doku­men­ta­ti­on und noch ein paar Din­ge. Die Doku­men­ta­ti­on nennt sich tref­fend „A Wave of Endor­phins“, „Eine Wel­le von Endor­phi­nen“ also, und das dazu pas­sen­de Album nennt sich eben­so. Passt ja auch irgendwie.

    Nicht, dass da nun irgend­wel­che Über­ra­schun­gen zu erwar­ten wären. Her Name is Cal­la machen ein­fach das, was ihre größ­te Stär­ke ist: Neun instru­men­ta­le Stücke zwi­schen etwas unter zwei­ein­halb und etwas über sechs Minu­ten. Viel Kla­vier, meist an Kam­mer­mu­sik, manch­mal an die spä­ten Talk Talk erin­nern­de Ein­wür­fe von Bass, Streich- oder ande­ren Instru­men­ten, manch­mal ein trei­ben­der Rhyth­mus mit Schlag­zeug und Gitar­ren­klän­gen, aber nie, nicht ein­mal im abschlie­ßen­den und hier erstaun­lich gut pas­sen­den Post­rock-Aus­ru­fe­zei­chen „The Hour Of The Gloam“, auch nur dem Ver­dacht nahe, jetzt plötz­lich ordi­nä­re Rock­mu­sik machen zu wol­len. Das hier ist mehr.

    Habe ich da „instru­men­tal“ geschrie­ben? Das stimmt ja eigent­lich nicht; in „Trans­mu­te“ zum Bei­spiel wird gesun­gen: Zu fast unsi­che­ren gezupf­ten Sai­ten singt eine Frau – ver­mut­lich Sophie, ihres Zei­chens Front­vio­li­ni­stin und Twit­ter­zu­stän­di­ge des Quar­tetts – zer­brech­lich sanf­te Wor­te, im fol­gen­den „Spar­ring Part­ner“, dem (trotz der merk­wür­di­gen Stimm­ef­fek­te im Refrain) besten Brit­pop-Lied, das mir gera­de ein­fal­len möch­te, darf einer ihrer drei Band­kol­le­gen sich als wesent­lich bes­se­rer Bri­an Mol­ko ver­su­chen. Der Text? Wen küm­mert der Text? „A Wave of Endor­phins“ ist instru­men­tal, dar­an ändert kei­ne Zei­le Text etwas.

    Jetzt, just in die­sem Moment, läuft das Stück „I Cho­se Wrong“ im Kopf­hö­rer und der Autor die­ser Zei­len hat seit etwas mehr als zwei Minu­ten Gän­se­haut und das drin­gen­de Ver­lan­gen zu rei­sen; nicht weg von die­sem Album, son­dern mit die­sem Album irgend­wo hin. Kurz meint man tür­ki­sche Folk­lo­re zu hören, dann ver­schwin­det die­ser Augen­blick auch schon wie­der und weicht einer selt­sa­men Bedäch­tig­keit. Viel­leicht ist „ver­ton­te Augen­blicke“ sowie­so eine ziem­lich gute Beschrei­bung die­ses Albums.

    Nach gera­de ein­mal 35 Minu­ten – gefühlt nicht ein­mal zehn – ist die Wel­le, kaum dass sie mit „The Hour Of The Gloam“ an Druck gewon­nen hat, schon wie­der abge­ebbt. Zeit, sich zu sam­meln. „A Wave of Endor­phins“ ist ein her­vor­ra­gen­des Postrock­al­bum, ein her­vor­ra­gen­des Schwer­mu­t­al­bum und ein her­vor­ra­gen­des Album, um drin­gend zu ver­rei­sen. Hal­tet also gepack­te Kof­fer bereit.

    Hör­pro­ben: Das gan­ze Album lässt sich – ihr kennt das – auf Bandcamp.com voll­stän­dig anhören.

  12. The Grand Asto­ria – The Migh­ty Few
    „I never heard of you, and what the hell are you tal­kin‘ ‚bout?“ (Cur­se of the Ninth)

    Wor­an denkt ihr, wenn ihr den Band­na­men The Grand Asto­ria hört? An Luxus­ho­tels, das Ver­ei­nig­te König­reich, viel­leicht auch Fuß­ball­ver­ei­ne oder Kaba­ret­ti­sten? Wie klingt wohl die dazu pas­sen­de Musik?

    Nein, auf „The Migh­ty Few“ ertö­nen kei­ne Fuß­ball­chö­re; die klin­gen bekannt­lich nicht mal bei Pink Floyd fein. Da, wo The Grand Asto­ria her­kom­men, ist der Fuß­ball auch nicht unbe­dingt zu Hau­se: Der Gitar­rist, Mono­tro­nist (ein Korg Mono­tron scheint eine Art Syn­the­si­zer zu sein) und Sän­ger Kamil­le Sha­ra­po­di­nov ist anschei­nend in St. Peters­burg zu Hau­se und die­se Band ist sozu­sa­gen, trotz der hier immer­hin neun Mit­mu­si­ker, sein Solo­pro­jekt. Wir befol­gen die alte Regel „kei­ne Wit­ze über Namen“ und las­sen nahe lie­gen­de Wort­spie­le bei­sei­te, so bleibt mehr Zeit, uns auf die Musik zu konzentrieren.

    Und die hat es in sich.

    Auf „The Migh­ty Few“ – „die mäch­ti­gen Weni­gen“ – befin­den sich zwei Stücke von jeweils über 20 Minu­ten Län­ge, zusam­men haben wir hier fast 50 Minu­ten Lauf­zeit. Das macht Hoff­nung. Und natür­lich ist das Dar­ge­bo­te­ne schwer zu ver­glei­chen, ich höre allein Rush, Soft Machi­ne und Opeth eben­so wie The Mars Vol­ta. Die Band selbst nennt neben The Mars Vol­ta auch Pink Floyd (also doch Fuß­ball­chö­re!) als Ein­flüs­se, aber „The Migh­ty Few“ ist von der Schnar­chig­keit der letz­ten gefühlt 32 Alben letzt­ge­nann­ter Band erfreu­lich weit entfernt.

    Schon der Anfang lässt ein Pro­gres­si­ve-Metal-Album erah­nen, aber die erwar­te­te Explo­si­on lässt auf sich war­ten: „Cur­se of the Ninth“ beginnt mit Jazz­rock, gele­gent­li­che Blä­ser­ein­wür­fe las­sen die Span­nung stei­gen, bis eine selt­sam bluesi­ge Stoner-Rock-Ver­si­on von Led Zep­pe­lin die Füh­rung zu ergrei­fen scheint: „And if you trust me, baby…“ Den exal­tier­ten Gesang teilt sich Kamil­le Sha­ra­po­di­nov mit Dani­la Dani­lov, der seit Anfang 2014 immer mal wie­der im Umfeld der Band aktiv ist und mal eines ihrer Alben pro­du­ziert, mal Flö­te, Kazoo und/oder Gesang über­nimmt. Eine sol­che Häu­fig­keit an Pro­duk­tio­nen kennt man anson­sten eher von japa­ni­sche Bands wie Acid Mothers Temp­le und Boris (hier­zu sie­he oben). Mäch­tig, die­se Weni­gen. – Nach sechs­ein­halb Minu­ten ertönt erst asia­ti­sche Folk­lo­re, dann ein Jazz­jam mit Rock­fun­da­ment. Ich bin ver­wun­dert, aber mag das. Der Gesang wird anschlie­ßend etwas zurück­ge­schraubt, etwas Hall; nach kur­zer Gesangs­pas­sa­ge folgt ein sehr inter­es­san­ter Wech­sel aus RIO/Avant (mit Kla­vier- und Blä­se­rek­sta­se) und dem Hard­rock vom Anfang, abrupt unter­bro­chen durch ein boy­ban­des­ques A‑Cap­pel­la-Zwi­schen­spiel, bei dem nach und nach mehr Stim­men und elek­tro­ni­sche Effek­te ein­set­zen, bis das Stück schließ­lich in ein wah­res Gewit­ter aus Jazz­rock mit per­len­dem Kla­vier, psy­che­de­li­schem Hard­rock und dem Gesang vom Anfang aus­bricht. Dass Melo­die­frag­men­te über die gesam­te Dau­er des Stücks immer wie­der auf­ge­grif­fen wer­den, geht bei all den Wech­seln bei­na­he unter.

    „The Sie­ge“ geht direkt in die Vol­len und beginnt mit einer guten, bass­la­sti­gen Por­ti­on instru­men­ta­len Hard­rocks mit Gitar­ren­so­lo und Syn­the­si­zer­flir­ren, wech­selt aber recht bald zum Blues­rock; von da ist es dann auch nicht mehr weit zu, ah, da sind sie!, Pink Floyd und damit eigent­lich auch dem Solo­werk von Ste­ven Wil­son, das hier melo­disch wie gesang­lich durch­aus eine Refe­renz sein könn­te. „I trust my intui­ti­on / na na na hey / my intui­ti­on.“ Gut, dass ich das auch getan habe. Gegen Ende dür­fen die Syn­the­si­zer noch­mals zei­gen, was sie kön­nen, ein wenig Spa­ce­rock zum Abschied qua­si. Das Stück wird lei­der etwas ein­falls­los aus­ge­blen­det, wie auch anders­wo bereits beklagt wur­de. Mei­ner Gesamt­wer­tung kann’s egal sein.

    Seit dem Erschei­nen von „The Migh­ty Few“ im Mai die­ses Jah­res haben The Grand Asto­ria übri­gens bereits eine neue EP und ein ein­zel­nes neu­es Stück via Band­camp ver­öf­fent­licht. Ich weis­sa­ge, von die­ser Band wer­de man wohl noch manch Gutes zu hören bekom­men. Hof­fen wir das Beste.

    Hör­pro­ben: Aber­mals ist Bandcamp.com eine her­vor­ra­gen­de Anlauf­stel­le zum Hören und Kaufen.

  13. t – fragmentropy
    „So I take my revol­ver and put it in my mouth / to get used to it for the day I need it“ (The Black of White)

    Nach der bedau­er­li­cher­wei­se offen­sicht­lich dau­er­haf­ten Tren­nung sei­ner ehe­ma­li­gen Band Scy­the ver­öf­fent­lich­te der schwer­mü­ti­ge Mul­ti­in­stru­men­ta­list mit „frag­mentro­py“ nun­mehr sein fünf­tes Stu­dio­al­bum. Die „eclip­sed“ ver­gleicht es mit Radio­head, aber jeder weiß, dass Radio­head schei­ße sind. Ver­su­chen wir es also mal mit einer eige­nen Herangehensweise.

    „Frag­mentro­py“ ist ein Kof­fer­wort aus „Frag­ment“ und „Entro­pie“, viel­leicht ist eine Zer­bre­chungs­streu­ung gemeint, aber was das nun wie­der sein mag … – Tho­mas Thie­len ali­as t ist offen­sicht­lich nicht nur ein Freund von Klein­buch­sta­ben, son­dern schätzt auch Sprach­spie­le­rei­en. Dabei lässt er sich bis­wei­len viel Zeit bei der Aus­ar­bei­tung: Die Web­site zum Album behaup­tet, die Tex­te sei­en von 1994 bis 2015 ent­stan­den. Was lan­ge währt, wird end­lich gut. Und wie gut!

    Das Album ist in ins­ge­samt drei „Kapi­tel“ auf­ge­teilt, die the­ma­tisch irgend­wie zusam­men­hän­gen. The­ma­tisch fröh­lich wirkt kei­nes davon, aber man soll­te ja auch mal inne­hal­ten; dies unge­ach­tet von gran­dio­sen „Sei­ten“ in die­sen Kapi­teln wie zum Bei­spiel dem Drei­zehn­mi­nü­ter „Brand New Mor­nings“ aus dem ersten Kapi­tel, das den Namen „Aniso­tro­pic Dances“, „aniso­tro­pe Tän­ze“ also, trägt und bereits in den ersten zwei Minu­ten moder­ne Vari­an­ten des Can­ter­bu­ry Style (Argos u.a.), Spock’s Beard, Gent­le Giant und Zir­kus­mu­sik leicht­fü­ßig aneinanderreiht.

    Was bei einer Ein­mann­band, die sich selbst beglei­tet, nicht gera­de leicht ist. Aber t hat sich pro­fes­sio­na­li­siert, von dem doch recht com­pu­te­ri­sier­ten Klang man­cher Ent­wür­fe ist hier nichts zu hören. Sind das etwa ech­te Instru­men­te? Sti­le jeden­falls beherrscht er min­de­stens eben­so vie­le; Postrock­gi­tar­ren und ein­dring­li­ches Flü­stern zu Kla­vier­be­glei­tung müs­sen ein­an­der eben nicht aus­schlie­ßen. Über­haupt ist „frag­mentro­py“ mit „atmo­sphä­risch“ wohl ziem­lich tref­fend zu beschrei­ben. Vie­le Wor­te ver­der­ben den Brei.

    Dies viel­leicht noch:

    Spä­te­stens seit sei­nem zwei­ten Album scheint t auf einer Rei­se zu sein, auf einer Rei­se immer tie­fer in eine ganz eige­ne Klang­welt. So ent­steht wohl aus einer Mischung von rea­len und pro­gram­mier­ten Instru­men­ten ein dich­tes Geflecht aus dra­ma­ti­schen Pas­sa­gen, sin­fo­ni­schen Aus­brü­chen, aggres­si­ven Erup­tio­nen und fili­gran-melan­cho­li­schen Aus­flü­gen in düste­re Gefil­de. Flir­ren­de Gitar­ren- und Key­board-Klän­ge illu­mi­nie­ren die­se Klang­welt, die zwi­schen Dra­ma­tik, Düster­nis, Melan­cho­lie und Wucht mun­ter oszil­liert. Gera­de die lan­gen Stücke sind wie Ozea­ne, die mal bewegt, mal ruhig, mit einer unge­heu­ren Dyna­mik den Hörer umspü­len. Auf­wüh­lend, mit­rei­ßend, beein­druckend und erfül­lend ist die­se Musik.

    Wie wahr.

    Hör­pro­ben: Amazon.de hält halb­mi­nü­ti­ge Aus­schnit­te vor­rä­tig, TIDAL-Nut­zer kön­nen das Album kom­plett anhören.

  14. echo­lyn – I Heard You Listening
    „Soon the water will rise / and soon it car­ri­es them home“ (Car­ri­ed Home)

    „Ich hör­te euch zuhö­ren“ – von wem, wenn nicht von echo­lyn, ist so ein Titel zu erwarten?

    Fan­gen wir aus­nahms­wei­se ein­mal mit dem Unschö­nen an: „I Heard You Listening“ ist nicht „mei“. Es ist höchst unwahr­schein­lich, dass echo­lyn jemals ein noch bes­se­res Album machen wer­den als „mei“, und das gilt auch für „I Heard You Listening“.

    So viel zur Kri­tik, der Rest ist näm­lich – wie so oft – ziem­lich klas­se. Wei­te Strecken des Albums sind typisch echo­lyn: Auf ihrem ach­ten Stu­dio­al­bum kom­bi­niert das Her­ren­quin­tett aus Phil­adel­phia erneut tasten­la­sti­gen Retro­prog mit moder­nen Zuta­ten, ohne sich dabei nur zu wie­der­ho­len. Das wäre doch auch langweilig.

    „War­Jazz“ zum Bei­spiel, Lied Num­mer 2, beginnt wie eines der alten Kla­vier­rock­lie­der von Elton John, wird dann aber schnell inter­es­san­ter: Ein hek­ti­sches Schlag­zeug und ein kur­zer Key­board­tep­pich lei­ten über in eine Art Hard­rockstrophe mit flir­ren­der Gitar­re und dem wie gewohnt über­ra­gen­den Gesang von Ray West­on, der Refrain wie­der­um könn­te schon wie­der von Elton John stam­men (und das ist an die­ser Stel­le nicht mal nega­tiv gemeint), wenn der Gesang nicht so klas­se wäre. Was ist das? Es ist spannend.

    Ande­re Stücke wie „Dif­fe­rent Days“ könn­ten eben­so von Spock’s Beard stam­men, wäre da nicht die raf­fi­nier­te Dis­so­nanz im Refrain, was sich die mei­sten die­ser Neo-Retro-Irgend­was-Bands ja heut­zu­ta­ge nicht mehr trau­en. Frü­her war vie­les bes­ser, nur echo­lyn hal­ten ihr Niveau. „Once I Get Mine“ ist gleich­sam eine durch­ge­dreh­te Vari­an­te in ähn­li­chem Stil, wenn auch näher an Bands wie Mr. Bungle und Pri­mus als alles, was ich bis­lang mit echo­lyn ver­bun­den hätte.

    Kei­ne Ruhe, kei­ne Bal­la­den. Neun Stücke, alle­samt zwi­schen fünf und zehn Minu­ten lang, ver­ge­hen wie im Flug. Das letz­te Stück, „Vanis­hed Sun“, ist eben­so wenig ein Lücken­fül­ler wie der Rest des Albums und mit der sich bei­na­he über­schla­gen­den Stim­me von Ray West­on und dem merk­wür­di­gen Mit­klatschre­frain so ein­ma­lig wie ein­präg­sam. Es gehör­te schon immer zu den Stär­ken die­ser Band, kom­ple­xe „Pop­mu­sik“ zu machen, ohne einen ein­zi­gen Takt mit tat­säch­li­cher Pop­mu­sik zu ver­schwen­den. Ohr­wür­mer? Aber selbst­ver­ständ­lich! Gute Lau­ne? Aber hallo!

    Hör­pro­ben: Ach, war­um nicht mal wie­der Bandcamp.com (Kom­plett­stream)?

  15. Herr Gei­sha & The Boobs – Book of Mutations

    Hehe­he. Boobs. Das Beste zum Schluss, wie ihr seht.

    Herr Gei­sha & The Boobs, bestehend aus den drei Musi­kern Sir Bot­tom, Lady Body und natür­lich dem Gitar­ri­sten und Sän­ger Herr Gei­sha, stam­men trotz des Namens aus Lyon, Frank­reich, und haben seit 2012 bis­lang jedes Jahr ein Album ver­öf­fent­licht. Das nun­mehr vier­te Album „Book of Muta­ti­ons“ klingt trotz­dem kein biss­chen müde. Es han­de­le sich, so wird der Hörer instru­iert, trotz der Auf­tei­lung in neun „Titel“ (wobei „Chap­ter VIIII“ eigent­lich „Chap­ter IX“ hei­ßen müss­te, ande­rer­seits könn­te das Absicht sein) um ein ein­zel­nes Stück, das man doch bit­te­schön voll­stän­dig und LAUT hören möge (Groß­buch­sta­ben wie in der Quel­le). Wird gemacht.

    Homo­gen ist das „Buch der Muta­tio­nen“ kei­nes­falls; von zwei „Kapi­teln“ („Chap­ter II“ und „Chap­ter VII“), die im Post­rock und/oder ‑metal anzu­sie­deln sind, wobei beson­ders „Chap­ter VII“ an die guten, alten, sehr ver­miss­ten Aereo­gram­me erin­nert, abge­se­hen hört der Schrei­ber die­ser Zei­len hier eine bun­te Mischung aus den expe­ri­men­tel­le­ren Pro­jek­ten von Mike Pat­ton (Fan­tô­mas), Frank Zap­pa, Grunge, Math­rock, RIO/Avant und nicht zuletzt Noi­se­r­ock. Das liest sich anstren­gen­der als es klingt.

    Zumal kein fal­scher Ein­druck ver­mit­telt wer­den soll. Das „Kapi­tel 1“ greift nach einem selt­sa­men Beginn (es ertönt etwas, das wohl Glocken nach­ah­men soll) schon fron­tal an: Ein krumm­tak­ti­ges Gitar­ren­f­un­da­ment beglei­tet Herrn Gei­shas Punk­ge­schrei. Avant­gar­de-Punk? Schön­klang jeden­falls ist fei­ge. Das bei­na­he vier­zehn­mi­nü­ti­ge, über­wie­gend instru­men­ta­le „Kapi­tel 2“ legt noch eine Schip­pe hin­sicht­lich der Här­te drauf. Wer schon immer mal wis­sen woll­te, wie es klin­gen wür­de, wenn eine Band wie System of a Down eine Band wie Mog­wai covern wür­de, der bekommt hier viel­leicht einen ersten Eindruck.

    Ach, Schön­klang. „Kapi­tel 6“ kommt die­sem Wort viel­leicht noch am näch­sten, wenn man auch The Vel­vet Under­grounds „Sun­day Mor­ning“ als Schön­klang bezeich­nen wür­de. Aller­dings ist die­ser Spuk nach nicht ein­mal zwei Minu­ten wie­der vor­über und es wird wie­der gebret­tert. Herrlich.

    Das „Book of Muta­ti­ons“ ist ein wei­te­rer Anlass, dem Wort „Gen­re“ grund­sätz­lich zu miss­trau­en. Pro­gres­si­ve Pun­ka­vant­me­tal klingt ja auch wirk­lich däm­lich. Was wir hier haben, ist trotz gleich­blei­ben­der Men­ge an „Zuta­ten“ ein höchst krea­ti­ves, anre­gen­des Gericht. Lasst es euch schmecken.

    Hör­pro­ben: Band­camp hat Stream und Kauf.

1b. Schnell emp­foh­len

  • Demon Head – Ride the Wilderness

    Dro­gen­schwan­ger geht es bei Demon Head zu, einer däni­schen Kapel­le, die drü­ben auf dem Blog mit dem schö­nen Namen 33rpmPVC schon mal The­ma war. Dort heißt’s:

    Doom Metal mit einem guten Schuß Psychedelia.

    Ich erhe­be zag­haft eine mei­ner Hän­de zum Ein­wand, dass hier der Doom Metal – was soll das eigent­lich sein? – eher durch Abwe­sen­heit auf­fällt, was aber auch nicht unbe­dingt schlecht ist. Ein­ver­ständ­nis aller­dings äuße­re ich hier mit den Psy­che­de­lia, denn hier wird tat­säch­lich der Stoner-Rock (wie üblich mit Beto­nung auf „Stoner“) zelebriert.

    Wobei ich mich fra­ge, ob das noch Rock ist, immer­hin spricht die Ver­spielt­heit eine ande­re Spra­che. Mag ja sein, dass Demon Head gemein­hin als Metal­band geführt wer­den, wenn­gleich sie selbst sich unter „Hea­vy Rock“ ein­sor­tie­ren. Gen­re­pam­pe. Es gibt ein paar her­vor­ra­gen­de Soli, die ich mir so auch von einer guten Hard-Rock-Band wün­schen wür­de, und dann aber gibt es auch Momen­te wie das vor­letz­te Stück „The Grea­test Lie“, das von Stoner-/Kraut­rock all­mäh­lich doch in etwas über­geht, dem unser­eins das Metal­sein nur schwer­lich abspre­chen kön­nen möchte.

    Ein Adjek­tiv gefäl­lig? Erfri­schend. Ja, doch – ein sehr schön erfri­schen­des Album. Auch jetzt, lan­ge nach der schreck­li­chen Hit­ze­wel­le.

    Hör­pro­ben: Man höre auf Bandcamp.com hinein.

  • Ika­rus – Echo

    Den Namen Ika­rus ver­bin­det der geneig­te Musik­freund viel­leicht mit einem geflü­gel­ten Jüng­ling aus den grie­chi­schen Sagen des Alter­tums, viel­leicht auch mit der Ham­bur­ger Krautrock­band die­ses Namens, die in den frü­hen 1970-er Jah­ren ein biss­chen vor sich hin­exi­stier­te und irgend­wann damit aufhörte.

    2015 aller­dings fan­den sich in Zürich (Schweiz) wie­der­um ande­re Musi­ker unter dem Namen Ika­rus zusam­men und ver­öf­fent­lich­ten mit „Echo“ ihr Debüt­al­bum. Gen­res? Ach, Gen­res. Mini­mal­jazz, neh­me ich an, um nicht ulki­ge Satz­ver­bre­chen wie „Prog-Jazz-Groo­ve-Quin­tett“ (cf. Mock The Bird) kopie­ren zu müs­sen. Ja, fünf sind’s an der Zahl, und jeder von ihnen hat eine Auf­ga­be. Gele­gent­lich erin­ne­re ich mich beim Hören an Uto­pia­ni­sti, obwohl’s weni­ger rockt.

    „Echo“ ist trotz sei­nes Namens weit­ge­hend als Instru­men­tal­al­bum zu betrach­ten, das Voka­li­sten­duo aus Ste­fa­nie Suh­ner und Andre­as Lar­ei­da trägt eher Laut­ma­le­rei als Gesang bei; zwei Stim­men also als wei­te­res Instru­ment, als sound­scapes eben, a‑cappella bezie­hungs­wei­se india­ni­schen Gesän­gen nicht unähn­lich. Schwel­ge­risch wäre hier viel­leicht ein ange­brach­tes Adjek­tiv, selbst wäh­rend der kur­zen Aus­flü­ge in den Frei­form­jazz (etwa in „Saku­ra“) bleibt alles im Fluss. Refe­ren­zen zum Band­na­men, naja, viel­leicht flie­gen die Stim­men so hoch oder so. Zum Glück aber ver­bren­nen sie nicht und mög­li­cher­wei­se tut ein Ver­gleich mit Värt­ti­nä und Iki nie­man­dem ein Unrecht an. Ziem­lich zau­ber­haft, das Ganze.

    Hör­pro­ben: You­Tube. Erneut You­Tube. Schließ­lich Amazon.de.

  • Late Night Ven­ture – Tychonians

    Die dies­jäh­ri­ge Dosis Post­rock machen Late Night Ven­ture komplett.

    Das tycho­ni­sche Welt­sy­stem wur­de im 16. Jahr­hun­dert von dem däni­schen Mathe­ma­ti­ker Tycho Bra­he erson­nen und besag­te, dass die Erde im Mit­tel­punkt des Uni­ver­sums ste­he und alle ande­ren Pla­ne­ten um die Son­ne krei­sten. Aus heu­ti­ger Sicht ist das zumin­dest weni­ger blöd als manch ande­re Erklärungsansätze.

    Inwie­fern das eine Grund­la­ge für das Album „Tycho­ni­ans“ ist, ist bei­na­he ohne Tex­te schwer aus­zu­ma­chen. Fest steht, dass die fünf Musi­ker von Late Night Ven­ture eben­falls aus Däne­mark stam­men und sich offen­bar bevor­zugt mit Astro­lo­gie beschäf­ti­gen; das Vor­gän­ger­al­bum zum Bei­spiel trug den Titel „Pio­neers of Spacef­light“, das erste Stück auf „Tycho­ni­ans“ beginnt zudem mit etwas, das ich als die Abflug­ge­räu­sche eines Raum­schiffs inter­pre­tie­ren würde.

    Die Band mischt das alte Laut-Lei­se-Spiel mit aller­lei Doom‑, Spa­ce­rock- und Psy­che­de­lic-Zuta­ten, sie bleibt dabei über­wie­gend in instru­men­ta­len Gefil­den. Ein­zig in „Moon Sho­ne on White Rock“ fin­det sich ein wenig ver­zerr­ter Gesang. Das Inter­net zieht Ver­glei­che mit Ana­the­ma und (mehr­fach) Long Distance Cal­ling, ich fin­de sol­che Ver­glei­che eher albern, obwohl ich Long Distance Cal­ling hier strecken­wei­se auch selbst wiederfinde.

    Ein Rezen­sent auf Amazon.de merkt an, „Tycho­ni­ans“ mache Spaß. Ich behaup­te: Das stimmt.

    Hör­pro­ben: Neben den Schnip­seln auf Amazon.de gibt es einen Kom­plett­stream auf Bandcamp.com.

1c. Live und umsonst

  • Umphrey’s McGee – The Lon­don Session

    Wer ein Album „The Lon­don Ses­si­on“ nennt, der weckt damit zumin­dest Asso­zia­tio­nen an vie­le gute und weni­ger gute Live­al­ben ver­gan­ge­ner Epo­chen. Umphrey’s McGee mein­ten das aber noch iro­ni­scher als es scheint, als sie im Juni 2014, über vier Jahr­zehn­te nach den Beat­les, in den Abbey-Road-Stu­di­os (denen mit dem Zebra­strei­fen) in dem Raum – angeb­lich sogar in der­sel­ben Ecke -, in dem von 1962 bis 1970 eben­je­ne Pop­mu­sik­grup­pe ihre Alben ein­spiel­te, eini­ge ihrer Stücke neu aufnahm.

    Zwar ist mit „Bad Fri­day“ auch ein gänz­lich neu­es Stück auf dem Album zu hören, aber eigent­lich geht es ja um völ­lig ande­re Din­ge. Die Band aus Chi­ca­go macht dafür, dass sie aus den musi­ka­lisch sonst eher lang­wei­li­gen USA kommt, erfreu­lich spa­ßi­ge Musik zwi­schen allen musi­ka­li­schen Stüh­len und weiß die­se auch auf „The Lon­don Ses­si­on“ ange­mes­sen in Sze­ne zu set­zen. Anders gesagt:

    Lang­zeit­be­wun­de­rer von Umphrey’s McGee soll­ten mit die­sem Album wei­te­re Bewun­de­rung und Wert­schät­zung für Wag­nis und Ent­schlos­sen­heit der Band ent­wickeln. (…) Umphrey’s McGee fah­ren damit fort, das zu tun, was sie immer schon am besten konn­ten – näm­lich, jeder Beschrei­bung aus­zu­wei­chen und jeden Ver­such, sie in eine Schub­la­de zu stecken, in eine Übung in rei­ner Zweck­lo­sig­keit zu ver­wan­deln. Weni­ge ande­re For­ma­tio­nen kön­nen von sich behaup­ten, Ambi­ti­on, Mehr­deu­tig­keit und Inte­gri­tät in einer solch aus­ge­gli­che­nen Wei­se zu bieten.

    (Grau­sa­me Über­set­zung von mir.)

    Dass mit „I Want You (She’s So Hea­vy)“ auch ein von Umphrey’s McGee seit Jah­ren live gespiel­tes Lied der Beat­les, über­dies von deren Album „Abbey Road“ (dem mit dem Zebra­strei­fen) stam­mend, sei­nen Weg auf „The Lon­don Ses­si­on“ gefun­den hat, ist da eigent­lich nur noch das Sah­ne­häub­chen die­ser Veröffentlichung.

    Hör­pro­ben: Man höre auf Amazon.de oder TIDAL hinein. 

  • Guil­ty Ghosts – The Witness

    2015 war hin­sicht­lich der „Name your price“-Alben erschreckend ent­täu­schend. Haben inzwi­schen alle Musi­ker ihren Geschäfts­sinn entdeckt?

    Nein, auf eines ist Ver­lass, auf die Guil­ty Ghosts näm­lich, die als Solo­pro­jekt von Tri­stan O’Donnell gar nicht so vie­le sind, wie man glau­ben könn­te. Mit „The Wit­ness“ – „Der Zeu­ge“ – erschien im Juni nach über zwei Jah­ren Pau­se ein neu­es Album des Herrn, dies­mal aus­schließ­lich in digi­ta­ler Dar­rei­chungs­form, aber auch wei­ter­hin nicht an einen festen Preis gebunden.

    Ist das denn schon ein Album? Die Lauf­zeit beträgt nicht ein­mal 23 Minu­ten. Ich bin geneigt, von einem „Mini­al­bum“ zu spre­chen. Und ande­re Leu­te sind schon über­for­dert, wenn es um Lap­pa­li­en wie „Gen­res“ geht!

    Die sti­li­sti­sche Zuord­nung ist bei Guil­ty Ghosts indes wie gewohnt nicht schwer zu erra­ten. Wei­te Klang­land­schaf­ten brei­ten sich im Kopf aus und errei­chen von dort jeden Ort im Kör­per des Hörers, der ihnen Zutritt gewährt. (Ergibt das über­haupt Sinn? Und ist das wich­tig?) Ich höre fein­ste Instru­men­tal­me­lan­cho­lie, eine träu­me­ri­sche Remi­nes­zenz an Long Distance Cal­ling und hier und da auch Bal­la­des­ques. Dass man­che Kli­max durch’s gele­gent­li­che Ein- und Aus­blen­den nicht zum Zug kommt: Geschenkt! Wenig emp­feh­lens­wert ist das hier Gehör­te trotz­dem noch lan­ge nicht, sonst stün­de es nicht hier.

    Wahr bleibt auch die Selbst­be­schrei­bung des Musi­kers: „Songs fit for rai­ny days, ever­la­sting evenings, and melan­cho­ly moments in soli­tu­de.“ Holt es euch auf Bandcamp.com oder via eMu­le, ver­gesst die ande­ren Alben des Herrn O’Donnell nicht und schaut mal in den Wol­ken vor­bei. Es ist wirk­lich ange­nehm dort.

2. Schrott­wich­tel des Jahres

Es soll ja nie­mand behaup­ten, ich wäre plötz­lich all­zu belie­big gewor­den, weil bis­lang erschreckend wenig furcht­bar Schrä­ges auf­ge­führt war. Auch ein erwei­ter­ter Hori­zont kennt Gren­zen. Bei­spie­le gefäl­lig? 2015 war da durch­aus nicht geizig:

  • Pan­da Bear – Pan­da Bear Meets The Grim Rea­per: Weder flau­schig-pel­zig noch grim­mig. Wenn ich ein Pan­da wäre, wür­de ich die Pro­du­zen­ten die­ses Lang­wei­lers wegen Ruf­mords ver­kla­gen wollen.
  • Kat­zen­jam­mer – Rock­land: Zu vie­le Ideen auf zu wenig Platz. „Oh, sweet lord.“
  • Moll­mas­kin – Heart­break In ((Ste­reo)): Herz­zer­rei­ßen­des, lah­mes Geklimper.
  • Pro­goc­to­pus – Tran­s­cen­dence EP: Ein Album, das klingt, als hät­te jemand ein gutes Pro­gres­si­ve-Rock-Album in Fet­zen geschnit­ten und dann halb­her­zig mit irgend­ei­nem Fünf-Euro-Pro­gramm wie­der zusam­men­ge­wür­felt. Jane Gil­lards guter Gesang wirkt lei­der völ­lig ver­lo­ren. So wird das nichts.
  • Por­ti­co – Living Fields: Von bezau­bern­dem Jazz auf frü­he­ren Alben zu ein­schlä­fern­dem Elek­tro­pop auf die­sem Erzeug­nis. So schnell kann’s gehen mit dem Fall.
  • Shi­ning – Inter­na­tio­nal Black­jazz Socie­ty: Wie die x’te Neu­auf­la­ge der „Tubu­lar Bells“, so ist auch die „Inter­na­tio­nal Black­jazz Socie­ty“ ein blut- und ideen­ar­mer Ver­such, aus dem Namen eines wirk­lich guten Albums noch etwas Pro­fit zu gewin­nen. Oder ist Black­jazz doch das „Gen­re“? Wenn ja: wann und war­um hat die­ses Gen­re auf­ge­hört, span­nend zu sein?

3. Neun­zig Jah­re Horrorschau

Wie üblich möge eine Rück­schau auf die letz­ten Jahr­zehn­te Musik­ge­schich­te die­sen Text beschlie­ßen; dies­mal begin­ne ich mit einem ganz beson­de­ren Jubiläum:

  • Vor 90 Jahren:
    Gid Tan­ner – Boll weevil blues

    1925, mit­ten in der Wei­ma­rer Repu­blik, war kein beson­ders gutes Jahr für Deutsch­land. Fried­rich Ebert, Vor­sit­zen­der der bereits damals kriegs­freund­lich ein­ge­stell­ten und auch vor Mord am poli­ti­schen Geg­ner – sei­ner­zeit Rosa Luxem­burg und Karl Lieb­knecht – nicht zurück­schrecken­den SPD war bis Ende Febru­ar 1925 Reichs­prä­si­dent des merk­lich von der Poli­tik der SPD gezeich­ne­ten Lan­des, ein öster­rei­chi­scher Künst­ler und Kriegs­ve­te­ran publi­zier­te der­weil den ersten Band einer ziem­lich lang­wei­li­gen Geschich­te namens „Mein Kampf“, der 2015 wie­der erhöh­te Auf­merk­sam­keit, dies­mal aus Urhe­ber­rechts­grün­den, zuteil wur­de. Auch musi­ka­lisch gab es nicht viel, wor­über man sich freu­en konn­te, und vie­les ist mitt­ler­wei­le zu Recht ver­ges­sen wor­den. In Geor­gia (USA) aller­dings mach­te das Duo aus dem Fidd­ler Gid Tan­ner und dem blin­den Gitar­ri­sten Riley Puckett von sich reden, das für die dama­li­ge Zeit eini­ger­ma­ßen moder­ne Folk­mu­sik spiel­te und für die Plat­ten­fir­ma Colum­bia bereits man­che Schall­plat­te auf­ge­nom­men hat­te. Der Bit­te Colum­bi­as, eine String­band zu grün­den, kamen bei­de bald nach; Gid Tanner’s Skil­let Lickers erwar­ben einen solch guten Ruf, dass sei­ne Enkel und Uren­kel noch heu­te unter dem Namen Skil­let Lickers mit etwas, was wohl mitt­ler­wei­le „Old-Time-Musik“ heißt, auf Festi­vals auf­tre­ten. Das sol­len die Rol­ling Stones erst mal hinbekommen.

  • Vor 40 Jahren:
    Van der Graaf Gene­ra­tor – Godbluff

    1975 sah die Welt schon viel bes­ser und fried­li­cher aus: Der spa­ni­sche Dik­ta­tor Fran­co starb und der erbärm­li­che Viet­nam­krieg ende­te mit viel zu wenig toten Sol­da­ten und viel zu viel Leid. Es war also ein idea­les Jahr für etwas Beschau­lich­keit. Dave Greens­la­de trug zu die­ser Beschau­lich­keit zum vor­erst letz­ten Mal mit Greens­lades Album „Time and Tide“ bei, auf dem aber­mals sehr emp­feh­lens­wer­ter Pro­gres­si­ve Folk gespielt wur­de. Lou Reed ver­such­te der­weil sei­nen Plat­ten­ver­trag los­zu­wer­den, der nach sei­nem bis heu­te in sei­ner Hei­mat erfolg­reich­sten Album „Sal­ly Can’t Dance“ von 1974 die unge­lieb­te Erwar­tungs­hal­tung von Publi­kum und Finan­ziers ver­viel­facht haben dürf­te: „Metal Machi­ne Music“ wur­de ein gewal­ti­ger Koloss aus Gitar­ren­lärm, der kom­mer­zi­ell der gewünsch­te Rein­fall wur­de, künst­le­risch aller­dings ein lan­ges Nach­spiel hat­te, das schließ­lich erst 2002 in einer Neu­in­ter­pre­ta­ti­on zusam­men mit dem deut­schen Ensem­ble Zeit­krat­zer, dann 2008 in der Grün­dung des bis zu sei­nem Tod im Jahr 2013 bestehen­den Metal Machi­ne Tri­os sei­nen Abschluss fand. Einen wei­te­ren Neu­an­fang wag­te 1975 die zuvor vor­über­ge­hend auf­ge­lö­ste Pro­gres­si­ve-Rock-Band Van der Graaf Gene­ra­tor, deren Mit­glie­der ohne­hin für ver­schie­de­ne Solo­ak­ti­vi­tä­ten zusam­men­ge­ar­bei­tet hat­ten, und ver­öf­fent­lich­te vier Jah­re nach „Pawn Hearts“ das bis heu­te als eines ihrer besten bewer­te­te „Comeback“-Album „God­bluff“, das mit nur vier Stücken, dar­un­ter das gran­dio­se „The Sleep­wal­kers“, den Auf­takt zu einer in schnel­ler Fol­ge ver­öf­fent­lich­ten Rei­he von her­vor­ra­gen­den Wer­ken führ­te. 1978 zer­fiel die Band nach eini­gen Umbe­set­zun­gen wie­der und fand sich erst 2005 wie­der zusam­men; eigent­lich wäre („ALT“ ist von 2012) ja auch mal wie­der ein neu­es Album fäl­lig. War­ten wir es ab.

  • Vor 30 Jahren:
    Maril­li­on – Mis­pla­ced Childhood

    Viel bes­ser abwar­ten – nicht nur in musi­ka­li­scher Hin­sicht – hät­te man die 1980-er Jah­re gekonnt. Zwar gab sich 1985 mit der Groß­ver­an­stal­tung „Live Aid“ men­schen­freund­lich, gleich­zei­tig aber wur­de die­ses Jahr zum „Jahr der Ver­ein­ten Natio­nen“ erklärt. Die Ver­ein­ten Natio­nen sind nun nicht für eine beson­de­re Fried­fer­tig­keit bekannt, immer­hin unter­hal­ten sie sogar eine eige­ne Armee. Dazu passt eigent­lich der Titel des in die­sem Jahr erschie­ne­nen Albums der Grup­pe Dire Straits, näm­lich „Brot­hers in Arms“, also „Waf­fen­brü­der“, eben­so gut wie das anschei­nend komisch gemein­te „Geld oder Leben!“ der öster­rei­chi­schen Pop­band Erste All­ge­mei­ne Ver­un­si­che­rung, wobei bei Din­gen, die die Ver­ein­ten Natio­nen betra­fen, oft weni­ger Geld als Leben floss. Mit­ten in die­se wir­re Zeit wur­de der Autor die­ser Zei­len in eine deplat­zier­te Kind­heit hin­ein gebo­ren, und auch Maril­li­ons 1985 ver­öf­fent­lich­tes „Mis­pla­ced Child­hood“ wirk­te mit dem Radio­hit „Kay­leigh“ einer­seits und Stücken wie „Laven­der“ ande­rer­seits zer­ris­sen zwi­schen Gefäl­lig­keit und Anspruch. Der Abschied vom küh­len, tech­ni­schen Stil der Vor­gän­ger­al­ben jeden­falls läu­te­te auch den all­mäh­li­chen Abschied vom angeb­lich zuse­hends mehr von sich ein­ge­nom­me­nen Sän­ger Fish ein; nach einem wei­te­ren Album ver­ließ er die Band nur kur­ze Zeit spä­ter, sei­ne ehe­ma­li­ge Band macht bis zum heu­ti­gen Tage mit dem damals neu­en Sän­ger Ste­ve Hogarth und einem zuse­hends mehr am Art­rock als an Gene­sis ori­en­tier­ten Stil wei­ter. Manch­mal will auch die Musik mit der Zeit gehen.

  • Vor 20 Jahren:
    Neu! – Neu! 4

    Was fällt euch ein, wenn ihr „1995“ lest? Rich­tig: 50 Jah­re Kapi­tu­la­ti­on der deut­schen Wehr­macht, 5 Jah­re deut­sche Ein­heit und nicht zuletzt der Sie­ges­zug eines zu die­sem Zeit­punkt schon vier­zehn Jah­re alten Lie­des, näm­lich „Start Me Up“ von den Rol­ling Stones. Win­dows 95 brauch­te eine ein­präg­sa­me Hym­ne, und was lag da näher als ein ver­meint­li­ches Lied über den sei­ner­zeit neu­en „Start­knopf“? Die Rol­ling Stones waren aller­dings selbst längst wei­ter­ge­zo­gen, im Novem­ber 1995 erschien mit „Strip­ped“ eine Art Stu­dio-Live-Album ohne eige­nes neu­es Mate­ri­al; auf das näch­ste „voll­stän­di­ge“ Stu­dio­al­bum „Bridges to Baby­lon“ muss­te das geneig­te Publi­kum noch bis 1997 war­ten. Es war ein viel­fäl­ti­ges Jahr, in das auch Purs erstes Num­mer-1-Album „Aben­teu­er­land“ gut hin­ein­pass­te. Pop und Radio­rock, wohin man zunächst blick­te. Aber was, wenn man einen zwei­ten Blick wag­te? Viel­leicht hat man dann das selbst­be­ti­tel­te Debüt­al­bum der schwe­di­schen Pro­gres­si­ve-Rock-Band Ritu­al ent­deckt, die bereits auf ihm einen eigen­stän­di­gen Stil zwi­schen Folk, AOR und Hard­rock gezeigt hat­ten, den sie in den kom­men­den Jah­ren immer wei­ter zu einem beein­drucken­den Folk­rock wei­ter­ent­wickeln soll­ten. In Deutsch­land bäum­te sich der­weil ein letz­tes Mal der Kraut­rock auf: Die von Con­ny Plank, der mitt­ler­wei­le ver­stor­ben war, in den Jah­ren 1985 und 1986 pro­du­zier­ten letz­ten, aller­dings unvoll­ende­ten Auf­nah­men des Düs­sel­dor­fer Duos Neu! wur­den nach der streit­be­ding­ten Tren­nung der bei­den Musi­ker Klaus Din­ger und Micha­el Rother erst nach neun Jah­ren zur Ver­öf­fent­li­chung als „Neu! 4“ frei­ge­ge­ben. Dass sich selbst die nicht auf kom­mer­zi­el­len Erfolg bedach­te Band Neu! hier mit aller­lei Elek­tro­nik an den schlim­men „musi­ka­li­schen“ Zeit­geist des Jahr­zehnts anzu­pas­sen ver­such­te, ist dank der anson­sten wei­ter­hin expe­ri­men­tel­len Spiel­wei­se bei­na­he unauf­fäl­lig geblie­ben. Nichts­de­sto­trotz erschien 2010 eine über­ar­bei­te­te Neu­auf­la­ge unter dem Namen „Neu! ‚86“. Mit wei­te­ren Auf­nah­men ist nach dem Tod Klaus Din­gers aber lei­der nicht mehr zu rechnen.

  • Vor 10 Jahren:
    Nil – Nil Novo Sub Sole

    Zehn Jah­re ist es nun her, dass ich anfing, mehr oder weni­ger regel­mä­ßig rich­ti­ge Tex­te ins Web rein­zu­schrei­ben. Gleich­zei­tig erbeb­te die deutsch­spra­chi­ge Musik­welt aller­dings aus ganz ande­ren Grün­den, näm­lich auf­grund des Albums „Schrei“ der absur­den Com­bo Tokio Hotel, über die all­zu kin­di­sche Wit­ze zu machen selbst mir damals nicht zu unpas­send erschien. Wer aller­dings damals schon nicht viel Wert auf die Beschäf­ti­gung mit solch belang­lo­sem Quark gelegt hat­te, der ist zu benei­den, denn er hat­te um so mehr Zeit für wirk­lich gute Lie­der. …And You Will Know Us by the Trail of Dead zum Bei­spiel lie­ßen den poten­zi­el­len Käu­fern viel Zeit für Vor­freu­de, indem die Ver­öf­fent­li­chung ihres Albums „Worlds Apart“ von 2004 auf 2005 ver­scho­ben wur­de, damit die Ver­kaufs­zah­len sich nicht an denen von Emi­nem und Destiny’s Child (einer anstän­di­gen Plat­ten­fir­ma ist kein Ver­gleich zu doof) mes­sen las­sen muss­ten. Nichts Neu­es also unter der Son­ne? Dies jeden­falls behaup­te­te das fran­zö­si­sche Sym­pho­nic-Prog-Quin­tett Nil, des­sen Album „Nil Novo Sub Sole“ seit dem Jahr 2005 eben­falls erhält­lich ist, aller­dings unter offen­sicht­lich ande­ren Vor­aus­set­zun­gen, denn Zuge­ständ­nis­se sind hier nicht erkenn­bar. Den gro­ßen Feh­ler vie­ler ande­rer Musik­grup­pen, die eng­li­sche Spra­che zu der eige­nen zu machen, wie­der­ho­len Nil nicht, hier ist und bleibt alles auf Fran­zö­sisch, das ich zwar nicht ver­ste­he, das aber authen­tisch und nah wirkt. Umge­ben von einer atmo­sphä­risch dich­ten Wol­ke aus teils psy­che­de­li­schem, teils verz­wir­belt-har­tem Pro­gres­si­ve Rock, der mal an King Crims­on erin­nert, meist aber eine ganz eige­ne Note trägt, schwebt Sän­ge­rin Rose­ly­ne Ben­thet gleich­sam über den Din­gen und ver­ur­sacht ganz neben­bei selbst bei den ungän­sig­sten Hörern eine Gän­se­haut, die man eigent­lich gern eine Wei­le behal­ten wür­de. Man­che Alben füh­len sich ein­fach rich­tig an; dies ist eins davon.

Was wohl noch kom­men mag? Wer weiß! Sebkha-Chott aller­dings haben zum Jah­res­wech­sel ihre Auf­lö­sung ange­kün­digt. 2016 soll ein letz­tes Album erschei­nen. Da bleibt zumin­dest etwas, wor­auf wir uns noch ein­mal freu­en können.

Bis zum näch­sten Mal!

Seri­en­na­vi­ga­ti­on« Musik 12/2014 – Favo­ri­ten und Ana­ly­seMusik 06/2016 – Favo­ri­ten und Analyse »

Senfecke:

  1. Hi Sven,
    ich bin Petra von Pais­ley Tree und woll­te mich im Namen der Band für Dei­nen schö­nen Review bedanken.
    Wir haben ihn auf unse­re face­book Sei­te gestellt –> https://www.facebook.com/Paisleytreeband/?ref=settings
    Lie­be Grü­ße, Petra

    P.S. Die Zweittstim­me habe ich selbst gesun­gen :-)
    Dem­nächst kommt noch eine Sin­gle in Koope­ra­ti­on mit Space Debris. Viel­leicht hast Du ja Lust, auch die zu „review­en“.
    Dann gib mir ein­fach per E‑Mail Bescheid. http://green-brain-krautrock.de/32cf191a5b396b39b03506d58647ad56,german,SPACE-DEBRIS-PAISLEY-TREE-New-Rag-Spiral-Cage-7-inch-Split-single-Green_23179.html

    • Heyho, magi­sche Petra,

      so als Face­book­mei­der (jetzt werft doch nicht so exten­siv mit Daten aus mei­nem Impres­sum um euch, wenn ich hier schon unter Pseud­onym par­lie­re, Mensch) hab‘ ich mich schon gewun­dert, woher die vie­len Zugrif­fe kom­men. Schön, wenn es euch gefällt. (Aber die vier Alben dar­über ein­fach igno­rie­ren? Dz, dz! So war das ja nicht gedacht.)

      Von Sin­gles hal­te ich aus wirt­schaft­li­chen Grün­den nicht viel, aber ich hab‘ euch im Auge. ;)

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