Ah, es ist wieder ein Jahr vorbei. Das kriegt man ja derzeit gar nicht so wirklich mit, deswegen schreibe ich es lieber dran. Während die meisten Jahresrückblicke aber schon im Spätherbst weitgehend fertiggeschrieben worden waren, gab ich auch diesmal wieder der Musikerwelt die Chance, mich noch bis zum letzten Tag des Jahres von ihrem Können zu überzeugen. Wenig wäre trauriger als einen Rückblick auf ein Jahr zu schreiben und einen Tag später geschähe etwas, das alles ändert. Nein, nein.
Hier also – zur Erbauung hoffentlich vieler – folgen einige der bemerkenswertesten Musikalben des Jahres 2021. Es scheinen einige Überraschungen – etwa das neueste Album von Limp Bizkit – zu fehlen. Dem ist aber nicht so. Die haben mir nur nicht gefallen.
Bereits zuvor besprochen beziehungsweise beschrieben habe ich die aktuellen Werke von Palo Alto, Neurosenblüte, Bossk, Godspeed You! Black Emperor, Dry Cleaning und Electric Orange. Bitte nicht mehr anrufen, die sind nicht mehr dabei.
Der Musiker Morrissey schrieb im April 2021, in der modernen Musik haben Emotionen keinen Platz mehr. Das wollen wir doch mal sehen. In einer Studie kam vor einer Weile heraus, dass es durchaus einen Zusammenhang zwischen dem Charakter und dem Musikgeschmack eines Menschen gibt. Menschen, denen hiervon irgendetwas gefällt, sind daher gute Menschen. Wirklich.
Los geht’s.
КОМВУИАТ ЯОВОТЯОИ – ‑270°C
Die Gruppe, die tatsächlich nicht „Kombinat Robotron“ heißt, weil die kyrillischen Buchstaben eigentlich irgendwie anders gelesen werden, reicht dem Genießer auf „-270°C“ gewohnt mitreißende (ich mag nicht „gereifte“ schreiben, das hätte was von Langeweile) Space-/Krautkost auf gewohnt hohem Niveau. Würde ich tanzen, tanzte ich dazu, doch ich tanze nicht. Ich höre, nicke unrhythmisch und freue mich.
Minus 270 Grad Celsius, wie der Name des Albums vielleicht ausgesprochen werden soll, sind 3,15 Grad Celsius über dem absoluten Nullpunkt, also immer noch recht kühl. Da es hier keinen Gesang gibt (uff!), ist der Kontext schwer auszumachen. Die vier Stücke heißen wie Teleskope („Compton“, „Chandra“, „Spitzer“ und „Hubble“). Natürlich ist „Hubble“ (21:21 Minuten) am längsten. Kennen die meisten, also braucht es auch am meisten Platz.
Die Vinylauflage ist restlos ausverkauft und gebraucht derzeit recht teuer. Verdammter Mainstream.
Sleaford Mods – Spare Ribs
Das erste Album nach dem „Brexit“ konnte wegen der Krise nicht per Tour beworben werden wie früher, trotzdem hat sich kaum etwas geändert: Jason Williamson erzählt wütend, wenn auch zahmer als bisher, zu monotonen beats etwas über alles, was ihn aufregt; das ist, so viel sei vorweggenommen, immer noch einiges. Wirklich neu sind die beiden Kollaborationen mit den Gastsängerinnen Amy Taylor und Billy Nomates, wobei insbesondere letztere – in „Mork n Mindy“ zu hören – im gesungenen Refrain einen ungewöhnlichen Souleindruck hinterlässt. Dass die Sleaford Mods trotzdem weit von den furchtbar belanglosen Popstaralben von Eminem vor seiner Besinnung auf früher entfernt bleiben, beruhigt: Auf das Nötigste reduzierter Elektropunk ohne Kompromisse. Worauf sollten sie auch aus sein – auf Verkaufszahlen?
Wer bis zum Ende durchhält, den erwartet trotzdem noch eine Überraschung: Das abschließende „Fishcakes“, das angeblich autobiografisch die Kindheit des Texters nacherzählt, ist von einer geradezu traurigen Stimmung, wenn auch mit einem hoffnungsvollen Refrain versehen: „And when it mattered, and it always did, at least we lived.“ Was für ein wundervolles Ende für ein Album, das jetzt leider auch zu Ende ist. Die Sleaford Mods aber sind es wohl noch lange nicht.
Reinhören: Es gibt ein Musikvideo zu „Mork n Mindy“, ansonsten natürlich Hörproben auf Amazon.de und alles auf TIDAL.
Syndone – Kama Sutra
Wenn man den Progressive Rock über eine Zeitlang verfolgt, erkennt man oft Muster, was Musiker und Regionen angeht. David Jackson etwa, früher unter anderem verdienter Saxophonist der inzwischen zahnlosen Van der Graaf Generator, spielt gelegentlich mit italienischen Stilkollegen zusammen.
Von italienischen „Progbands“ halte ich in der Regel wenig, weil mich italienischsprachiger Gesang ganz furchtbar nervt und die meisten hier relevanten Gruppen aus Italien anscheinend auch vor allem Genesis nacheifern, die mich ebenfalls ganz furchtbar nerven; nicht aber so Syndone.
Syndone wurden, sofern das Internet nicht irrt, 1988 gegründet und haben seitdem ein paar Alben rausgebracht. Auf dem neuesten, „Kama Sutra“, gastieren neben David Jackson unter anderem ein Sitarspieler, drei Bläser und das Budapest Scoring Symphonic Orchester. Stilistisch ist „Kama Sutra“ zappaesk, indem es nicht nur durchaus komplexe Kompositionen gibt, sondern auch überraschende Stilwechsel. Hier folgen auch schon mal Schlager („Into the Kama“, ein Stück mit dem Titelbestandteil „Sutra“ hingegen gibt es übrigens nicht auf dem Album), energischer Jazzrock („Bitches“), Blues und Filmmusik („You Still Shine“) direkt aufeinander. Bloß keine Langeweile!
Reinhören: Herausragend scheint mir das Stück Sex Toys R Us zu sein, ansonsten Schnipsel auf Amazon.de (leider kein Vinyl) und Komplettstream auf TIDAL.
Rædsel – Menetekel
Æs ist mir ein Rædsel, warum Rædsel sich Rædsel nennen. An der Sprache (Hessisch?) mag’s nicht liegen, die vier gut frisierten Herren (Quelle: Internet) kommen aus Kassel oder so und bringen druckvollen Postrock hervor. Das alte Laut-Leise-Spiel wird auf angenehm atmosphärische Weise durchexerziert, ohne dabei ins Schrammeln zu verfallen.
Auf das initiale instrumentale „My Hands Your Eyes“ folgt mit „Treetop“ ein Post-Metal-Stück, das schon in der ersten Hälfte (mehrstimmigen oder effektbeladenen?) Gesang aufweist; und das klingt dann sogar gut. Im sonst meist nicht mit gut klingendem Gesang auffallenden Postrock muss man das ja auch mal positiv bemerken. Sonst machen die das nie wieder.
Das mit dem Gesang machen Rædsel danach aber auch nie wieder. Auf dem Rest von „Menetekel“ bleiben sie wieder instrumental, ohne dabei langweilig zu werden. Postrockalben, von denen man nicht annimmt, man habe sie schon zu oft gehört, sind immer wieder reizend, und seien’s hier nur die kleinen Gitarrentupfer, die die Mauern aus Schall immer wieder durchbrechen. Hübsche Scheibe, so insgesamt, wenn auch mit etwas über 33 Minuten Spielzeit etwas kurz. Dafür macht es mehr Spaß als manch längeres Album, das dieses Jahr so rausgekommen ist. Auch mal schön.
Reinhören: Damit es nicht langweilig wird, mal eine andere Reihenfolge: TIDAL, Bandcamp (dort auch auf CD), Amazon.de (dort ohne Tonträger).
Suffocate for Fuck Sake – Fyra
Man sollte sich von dem beschaulichen Anfang dieses Albums wie auch von einigen Zwischentönen nicht beirren lassen: Suffocate for Fuck Sake tragen ihren Namen zu Recht. „Fyra“, das (wie der Name schon andeutet) vierte Album der Schweden, enthält schon wieder Postrock im weitesten Sinne, allerdings flankiert von post hardcore im vokalen wie im gerifften Sinne. Mitunter, in den ruhigeren Momenten, wird auf Schwedisch gesprochen. Schade. Ich kann kein Schwedisch.
In „Hope“ gibt es eine sanft-clean gesungene bridge, ansonsten gibt’s in „Fyra“ etwas mehr als eine Stunde und 21 Minuten lang weitgehend auf die Fresse (A. Nahles, anderer Zusammenhang). „Post-Metal mit Screamo-Einschlag“, schrieb ein Redakteur von „metal1.info“, werde mit dieser Dauer „anstrengend“. Ich teile diese Auffassung nicht, denn ich, obwohl meine Aufmerksamkeitsspanne inzwischen auch merklich nachlässt (man wird ja nicht jünger), empfand die Laufzeit als genau richtig. Muss so ein Menschenproblem sein.
„Fyra“ ist sicherlich kein Album für die Freunde beschaulicher Töne, aber das mir zuerst eingefallene Adjektiv für dieses Album war „kurzweilig“. (Einige Menschen, denen gegenüber ich dieses Wort verwendet habe, glauben, das bedeute so was ähnliches wie langweilig. Ich arbeite daran.) Und darum geht es ja letztendlich, oder?
Reinhören: Kauf usw. auf Amazon.de, Stream usw. via TIDAL und Bandcamp. Tonträger sind – außer den CDs, aber wer kauft schon noch CDs? – leider aus.
Oslo Tapes – ØR
Oslo Tapes, der Name sagt’s schon, ist ein Trio aus Italien, allerdings sind auf Pressefotos vier Herren zu sehen. Vielleicht ist es doch ein Quartett oder irgendwelche Texte und/oder Pressefotos müssten mal wieder erneuert werden. Sei’s drum.
Gegründet worden sei es, so will es die Legende, nach einer Reise durch Norwegen. Das dritte Album der mir unbekannten Anzahl an Musikem heißt „ØR“, was auf Norwegisch irgendwas heißt, und enthält Avant-Rock beziehungsweise „einen schwindelerregenden Ritt durch eine fiebrige Traumlandschaft des imaginären norwegischen Hochlands, gemalt in kubistischen Formen“ (Quelle: Pressetext) oder aber Free Jazz mit Elefantentrompeten („Exotic Dreams“; sind vermutlich norwegische Elefanten), Depeche Mode und Joy Division („Obsession is the Mother of All“) sowie jede Menge Spacerock mit Dance-Einschlag.
Die Stimmung auf „ØR“ ist tatsächlich träumerisch, der (nur manchmal etwas nervig) effektgeladene dream-pop-Gesang, der die nicht rein instrumentalen Teile des Albums begleitet, klingt wie hinter einem Schleier verborgen. Gesungen wird im Übrigen auf Englisch, was ich gut finde. Italienischsprachiger Gesang stört mich sehr; das erwähnte ich ja aber schon.
Aaron Kavanagh von „New Noise“ findet, Oslo Tapes sollten unbedingt bekannter werden. Meinetwegen. Hauptsache, sie bleiben so.
Reinhören: Amazon.de hat ausnahmsweise keinen Stream, nur die Tonträger; Bandcamp.com und TIDAL schaffen Abhilfe.
Caravan – It’s None of Your Business
„Country life’s not for you“ (Down From London)Ein neues Album von Caravan lässt mich meist schnell zum Kopfhörer greifen: In den inzwischen 53 Jahren ihres Bestehens haben die Altmeister des Canterbury Style selten wirklich nachdrücklich enttäuscht und man ist ja auch immer froh über alles, was aus dieser musikalischen Ecke überhaupt noch kommt; neben Caravan, Camel und den zurückgekehrten Soft Machine sind die Alten nahezu ausnahmslos in Rente gegangen, verstorben oder sonstwie verstummt.
„It’s None of Your Business“, das diesjährige insgesamt 15. Studioalbum, auf dem mit Pye Hastings (Gitarre, Gesang) immerhin noch ein Gründungsmitglied von Caravan zu hören ist (das werden andere Gruppen dieses Alters, etwa Yes, vermutlich nie wieder schaffen), beginnt mit „Down From London“ direkt mit einer Enttäuschung: Das Stück wird langweilig ausgeblendet, als sei es eigentlich viel länger, aber zu lang für – keine Ahnung – das Radio oder so. Diesen Fauxpas wiederholen Caravan auf dem Rest des Albums allerdings nicht oft. Sie wollten mit diesem Album zurück zu ihren Wurzeln, teilte Pye Hastings in einem Interview mit. Ursänger und ‑bassist Richard Sinclair, einst dessen stimmliches und musikalisches Gegengewicht, fehlt allerdings auch auf „It’s None of Your Business“.
Im zeitgenössischen Radio würde der sanfte Jazzrock, der hier zu hören ist, trotzdem auffallen, denn die Stücke sind entweder zu lang (das Titelstück schafft fast zehn Minuten Laufzeit) oder zu musikalisch anspruchsvoll für diejenigen, die einen drei Minuten lang durchgehaltenen 4/4‑Takt als höchstes Glück der Berieselung begreifen. Dabei sind schon ein paar veritable Ohrwürmer auf „It’s None of Your Business“ zu hören, etwa das bemerkenswert rhythmische „Ready Or Not“ (Abzug in der B‑Note, sozusagen: auch hier wird wieder blöde ausgeblendet), wenn auch sicher keine großen Überraschungen. Caravan: Da weiß man, was man hat. Bisschen Flöte, viel Akustikgitarre und natürlich der prominent nach vorn gemischte, angenehme, nie aufdringliche, aber auch – stilunüblich – nicht auffallend schlechte Gesang Pye Hastings‘.
Schönes Album, auch von der Stimmung her. Gerne wieder.
Reinhören: Komplettstream via TIDAL, Schnipsel und Kauf per Amazon.de.
Whispering Sons – Several Others
„I carve silence in my forearm / there’s no silence in my head.“ (Flood)Nächster Stil- und Landsprung: Bei „Several Others“ der belgischen Band Whispering Sons, die ich als – wie eine Stichprobe im Bekanntenkreis ergab – anscheinend weltweit letzter Mensch noch nicht kannte, nicht binnen kürzester Zeit an Joy Division, The Cure, Savages und hin und wieder (zuerst am Schluss des zweiten Stücks „Heat“) auch an Grinderman zu denken vermochte ich nicht. Aufgespielt wird mit musikalisch oft angenehm zurückhaltendem, düsterem Postpunk, Gitarrendominanz herrscht nur selten. Sängerin Fenne Kuppens legt einen interessanten Gesang darüber, der kaum als eindeutig weiblich, wohl aber als zerbrechlich wahrzunehmen ist.
Diese Kombination wirkt am eindrucksvollsten, wenn Whispering Sons aus dem sowieso schon nur locker angelegten Genrekorsett ausbrechen, etwa im von Klavier und Perkussionselektronik getragenen „Screens“, dessen Streichereinsatz selbst einen hartgesottenen Griesgram wie mich nicht ganz unbewegt lässt; daran ändert auch das folgende stampfende „Flood“, das in einem zeitgenössischen Gothic-Tanzschuppen sowohl musikalisch als auch textlich kaum negativ auffiele und deswegen zumindest meinen Geschmack knapp verfehlt, nichts.
„Ein Traum“ (anderswo gelesen) sei das hier Gehörte. In diesen „schwierigen Zeiten“ (danke, mir kommt’s selber hoch) sind Träume immer gern gesehen; und gehört.
Reinhören: Es gibt Stream (TIDAL) und/oder Kauf (Bandcamp.com, Amazon.de).
Lotus Titan – Odyssées
Ich konnte nie Französisch und kann es bis heute nicht. Das macht den Genuss von Lotus Titans irgendwie passend benanntem Debütwerk „Odyssées“ etwas schwieriger als erhofft.
Die vier Musiker nämlich, von denen eine – Julie Castel Jordy, eine auch sonst vielseitig interessierte Künstlerin – neben dem Theremin auch das Mikrofon spielt, also Texte darbietet, spielen eine merkwürdige Mischung aus improvisiertem Free Jazz, dem gelegentlich crimsonesque Ausbrüche entlockt werden („Jeterrible“), und einer Art Poetry Slam, indem, sieht man vom auch sonst treffend betitelten, beinahe wie ein Fremdkörper erscheinenden „Silence“ ab, statt Gesangs oft intensive Monologe auf den Hörer einprasseln, auf dass er nicht mehr wissen möge, wo oben und unten, vorne und hinten und auch sonst irgendeine Richtung ist. Eine wahre Odyssee quasi.
Das auf „Silence“ folgende Titelstück, mt über zwölf Minuten Laufzeit auch das mit Abstand längste, lässt das Tempo zunächst gedrosselt: Es gibt geradezu sakrale Ambientklänge und zurückhaltende Stimmeinsätze zu hören. Erst nach etwa sieben Minuten setzt eine Instrumentalpassage ein, die erklärt, warum Lotus Titan sich für von ausgerechnet Meshuggah beeinflusst verstehen, denn deren Spielart des Progressive Metal beherrschen sie gar nicht mal schlecht. Dass Julie Castel Jordy zwischendrin wütend etwas reinruft, passt zur umgebenden Musik, ist aber trotzdem ärgerlich, weil ich auch jetzt immer noch kein Französisch kann. Vielleicht ist „Odyssées“ noch besser, wenn man es kann?
Auch für alle anderen ist es allerdings ein Album, das sicherlich eines aufmerksamen Konsumenten bedarf, dessen Aufmerksamkeit aber mit hintergründiger Verspieltheit bei gleichzeitiger musikalischer Überraschung belohnt. Mein Album des Jahres 2021 ist es nicht, aber in der Avantgardekategorie schon sehr weit oben. Das ist ja auch was.
Reinhören: Eine Darbietung von „Héroïne“ hatte ich schon mal als Montagsmusik, ansonsten gibt es „Odyssées“ natürlich auch auf TIDAL, Amazon.de und Bandcamp.com zu hören.
Hippotraktor – Meridian
Toller Name, tolle Musik. Die (schon wieder!) Belgier tun mir den Gefallen, zumindest auf Englisch zu singen, denn auch mein Flämisch ist schlecht. Ihr seht: Ich bin zwar vielseitig interessiert und gebildet, aber meine Kenntnisse von zeitgenössischen europäischen Sprachen ist dürftig.
Auf „Meridian“, dem ersten long player von Hippotraktor, werden fast 42 (schöne Zahl auch) Minuten lang harte Riffs, cleanen wie uncleanen Gesang und geradezu fesselnde grooves entfesselt. Die Besetzung der Band, die man wohl als „Supergroup“, wie Musikgruppen aus mehreren schon bekannten Musikern früher mal hießen, bezeichnen sollte, spricht für sich; unter anderem ist hier sozusagen auch die DNS der Stoner-Metal-Gruppe Psychonaut und der „Krank-Rock“-Band L’itch – ich denke mir diese Genrenamen nicht aus – beteiligt.
Die wenigen leise(re)n Momente fängt das grollende Instrumentalgewitter mit Leichtigkeit auf, diese werden indes von vornherein nur spärlich angekündigt. „Meridian“ ist laut, ungestüm, „Meridian“ ist Krach. Ich mag Krach.
Reinhören: Bandcamp.com, TIDAL und so weiter.
Kurushimi – Chaos Remains
„Kurushimi“ ist Japanisch und heißt „Leiden“. Das australische Sextett gleichen Namens – nicht zu verwechseln mit dem japanischen, anscheinend inzwischen inaktiven Musiker, der sich ebenfalls Kurushimi nennt – klagt auf seinem sechsten Tonträger „Chaos Remains“, namensgerecht aus Aufnahmeresten des Vorgängeralbums „What Is Chaos?“ (2018) zusammengestellt, aber kaum, denn Gesang im verbreiteten Sinne gibt es nicht. Man habe sich thematisch von Werken John Zorns inspirieren lassen, lässt die Band mitteilen. Der erfahrene Leser weiß nun bereits: Hier geht es um Freiform-Jazz.
Tatsächlich sei „Chaos Remains“ wie folgt entstanden: Andrew Mortensen, Bass- und Keyboardspieler von Kurushimi, habe ein paar Schallplattenschleifen („turntable loops“) erschaffen, indem er an zufälligen Stellen Aufkleber auf den Platten aufgebracht hat, und im Studio sollten die Musiker dann unter der Anleitung des gleichfalls zur freien Entfaltung angehaltenen Dirigenten Simeon Bartholomew zu diesen loops spielen, wonach ihnen gerade der Sinn stand. Aufgrund der immerhin zwei Saxophonisten klingt das Ergebnis ungefähr so, als würden die 70er- und die 90er-Besetzungen von King Crimson einander gleichzeitig covern, während ein Orchester auf einer Autobahn spielt und den dort zu findenden Fahrzeugen kaum auszuweichen imstande ist. In „Funeral Moon“ gibt es wenige Sekunden lang textlose Stimmeinwürfe, die zur Stimmung der Musik vor allem als bekräftigendes Element beitragen.
„Chaos Remains“ ist 29:35 Minuten lang und somit deutlich kürzer als „What Is Chaos?“, was etwas kurz scheint. Es wurde bereits im Februar veröffentlicht, angekündigt waren weitere Veröffentlichungen im Laufe des Jahres. Bislang – heute ist der 19. November 2021 – ist daraus nichts geworden. Blödes Corona. Tolles Album.
Reinhören: Neben „What Is Chaos?“ gibt es auch „Chaos Remains“ bei Bandcamp und auf TIDAL.
Idles – Crawler
„Can I get a Hallelujah?“ (The Wheel)Kommen wir nun zu etwas völlig anderem.
Es wäre zu einfach, an Idles und ihr neuestes Album „Crawler“ lediglich das langweilige Etikett „Postpunk“ anzuheften, zumal das eröffnende „MTT 420 RR“ – meine erste Assoziation war Bryan Ferrys CPL 593H und tatsächlich geht es auch um ein Fahrzeug, allerdings um einen Motorradunfall – eine klaustrophobische Bad-Seeds-Atmosphäre erzeugt, keineswegs aber eine dröhnend-intime, wie gewöhnlicher Postpunk sie üblicherweise hervorbringt.
„Crawler“ ist ein Konzeptalbum, das sich weitgehend mit einem Fahrzeugunfall unter Drogeneinfluss, dessen Zustandekommen und dessen Folgen beschäftigt. Erstmals explosiv wird es in „Car Crash“, das die Geschichte aus dem ersten Stück aus einer anderen Perspektive beleuchtet. Die Stimme des „mit Glas gurgelnden“ (The Guardian) Frontmanns Joe Talbot, dessen Gesang nicht nur im Refrain von „Stockholm Syndrome“ an Bob Dylan (man hole Fackeln und Mistgabeln, ich habe soeben ein Sakrileg begangen) erinnert, mitunter – in den ruhigeren Momenten („The Beachland Ballroom“) – aber auch sanft, zerbrechlich gar, aus dem Kopfhörer fließt, ist trotz schön dominanten Bassspiels das wesentliche Alleinstellungsmerkmal dieses Albums.
In „The New Sensation“, das textlich („re-train as a dancer“) unter anderem auf eine sehr bescheuerte Werbung der britischen Regierung Bezug nimmt, die wegen Corona vorgeschlagen hat, dass Leute, die ihre Arbeit verlieren, ihre Karrierepläne aufgeben und etwas ganz anderes lernen sollten, meine ich mich an „Their Satanic Majesties Request“ und dessen musikalisches Vorbild – die Drogenphase der langweiligen Beatles – erinnert, und auch der von elektronischem Zirpen und Grollen begleitete Kanon „Progress“, der von zwei Halbminütern eingerahmt ist, fällt aus jedem Schema. Dass ich spätestens nach den ersten paar Stücken meine Einschätzung, dass es sich hier nicht um banalen Postpunk handelt, revidieren muss, bedaure ich indes kaum; denn zwar lässt sich der Postpunk selbst von mir nicht wegdiskutieren, aber banal ist er nicht, sondern vielmehr der bisher beste, der mir 2021 untergekommen ist.
„Crawl!“ würde ich gar einen Partykracher nennen, wenn ich allein von dem Wort nicht die sprichwörtlichen Krätze bekäme. Zum bedrückenden Thema des Albums mag’s nicht passen, aber ich bekomme tatsächlich gute Laune, während ich dieses Album höre. Das wäre doch jetzt nicht nötig gewesen.
„Life is beautiful!“ stellt der Sänger am Ende des Albums – in „The End“ – fest. Ein passender Abschluss für ein großartiges Album.
Reinhören: TIDAL (Komplettstream), Amazon.de (auch Kauf).
BRUIT ≤ – The Machine is burning and now everyone knows it could happen again
Ich mag ja Bands mit Namen, die ich nicht aussprechen kann (aber anscheinend spricht man das „≤“ nicht mit), und Musikalben mit viel zu langen Titeln. Den Rekord scheinen bisher Chumbawamba zu halten. Haben sie verdient. BRUIT ≤ machen Postrock und davon hatte es 2021 sonst sowieso zu wenig.
Auf „The Machine is burning and now everyone knows it could happen again“ sind vier Stücke von jeweils über achteinhalb Minuten Länge enthalten. Ich wünschte, das wäre noch ein Qualitätsmerkmal, aber das macht inzwischen sogar Taylor Swift. Möglicherweise haben wir es hier mit einem Konzeptalbum zu tun; zwei der vier Stücke sind mit Textzitaten unterlegt, in denen eine bessere Welt mit mehr Menschlichkeit und weniger Kapitalismus und Umweltzerstörung herbeigesehnt wird. BRUIT ≤ kommen aus Toulouse, aber das macht nichts.
Am langweiligen Laut-leise-Spiel, das in den Neunzigern schon perfektioniert worden ist und deshalb längst uninteressant ist, beteiligen sich BRUIT ≤ nur scheinbar. Zur Stammbesetzung des Quartetts gehört ein Cellist, die vier Gastmusiker tragen Bassposaune, Klarinette, Horn und Vibraphon bei. Insbesondere unter der Prämisse, dass es sich hier um ein Debütalbum handelt, ist das Ergebnis außerordentlich beeindruckend. BRUIT ≤ kombinieren typische Postrockeffekte, also Gitarrenkrach und durchaus überraschende elektronische Schnitte, mit diesen klassischen Zutaten („Renaissance“ zeigt sie erstmals in voller Pracht), ohne dass sie zu viel versuchen, wie es manch anderer Band geht, die zu experimentieren versucht. Wohldosierte instrumentale Explosionen an den richtigen Stellen und ein völliges Fehlen von fade-outs – das Album ist als Einheit zu erkennen, nicht bloß als lose Ideensammlung – tun ihr Übriges zu meiner Einschätzung, dass es in letzter Zeit kaum ein beeindruckenderes Postrockalbum als dieses gegeben hat.
Hoffentlich lassen BRUIT ≤ jetzt nicht nach.
Reinhören: Es gibt ein Video zum Stück „The Machine Is Burning“. Es ist gut.
Trialogos – Stroh zu Gold
Der Titel des Albums klingt nach Grimm’schen Märchen, die Musik hingegen keinesfalls.
Das anscheinend in Berlin beheimatete Trio Trialogos trat erstmals – wie auch sonst? – im Jahr 2020 im Rahmen einer Kunstausstellung gemeinsam auf. Konsequent erschiene es mir falsch, diese Kunst zum Genre zu degradieren. Die drei subkulturell diversen Musiker spielen Noiserock, Postrock und Industrial, überwiegend instrumental. Wer braucht schon Gesang? Zur Beschreibung des treffend betitelten Stücks „Batdance“, das der Tanzmusik And-One-scher Manier angehört, las ich irgendwo im Web das Wort „Gruftidisco“. Schönes Wort.
Das Album endet mit einer instrumentalen Klimax, dank moderner Technik intensiver als der vielstimmige Orchesterakkord, den die blöden Beatles irgendwann mal gemacht haben. „Wellenreiter“ heißt das letzte Stück und es schickt tatsächlich Wellen durch den Körper. Hübsch.
Reinhören: Via Bandcamp.com kann man streamen, kaufen und theoretisch auch (in mittelmäßiger Qualität) direkt herunterladen, aber natürlich macht man so was nicht, das wäre unmoralisch.
Big ‡ Brave – Vital
Was fehlt in dieser Rückschau noch? Ach ja: Postrock und Artverwandtes.
Big ‡ Brave, inzwischen zum Trio angewachsen, zelebrieren auf „Vital“ einen sehr, nun ja, vitalen Doom-Postmetal, dessen bedrohliches Donnern das Niederschreiben dieser Eindrücke erschwert, denn ich bin ein Mann, ich kann nicht zwei Dinge gleichzeitig machen. Diese Musik aber zwingt mich zu Aufmerksamkeit. Schade.
In fünf Stücken, aber insgesamt immerhin über 38 Minuten, trifft düsterste Instrumentalarbeit auf den expressiv-klagenden, mitunter auch wütenden („Of This Ilk“) Gesang von Robin Wattie, der jenen, die sowieso keinen Frauengesang mögen, ganz besonders wenig gefallen dürfte, für mich aber ein mehr als nur treffender Kontrast ist. Ich denke manchmal an Anna von Hausswolff. Ich denke sehr gern an Anna von Hausswolff. (Die seit 2021 übrigens auch als Gastsängerin und ‑organistin auf Sunn O)))s „Metta, Benevolence BBC 6Music: Live on the Invitation of Mary Anne Hobbs“ zu hören ist, aber Livealben und Späterveröffentlichungen nehme ich ja aus Prinzip nicht in diese Liste auf.)
Das Tempo bleibt dabei über weite Strecken gedrosselt, die brachiale Gewalt will sanft genossen werden. Ein passendes Adjektiv für das hier Gehörte ist „schwergewichtig“. Ich fühle mich musikalisch geradezu erdrückt und das gefällt mir auch noch gut. Ich weiß nicht, welcher ICD-10-Code das jetzt wieder ist. Im Internet wird dem Werk von Big ‡ Brave eine kathartische Wirkung bescheinigt. Stimmt.
Reinhören: Es gibt ein Video zu „Half Breed“, das zeigt, wie eine unsichtbare Hand Erde auf einen am Boden liegenden Menschen schüttet, der anschließend aufsteht und geht. Ich verstehe das nicht. Das macht nichts.
Spiritczualic Enhancement Center – Carpet Album
Was erwarte ich von einer Band, deren Name mit „Spiritczualic“ – ein Kofferwort aus „spirit“, „ritual“ und einem polnischen Zischlaut – beginnt? Klar: Drogenmusik. Bekiffte Audiotrips mit bedächtigem Rhythmus, gern mit dominantem Bass und gelegentlich ein bisschen Gitarrenflirren.
Was ist auf dem „Carpet Album“ des Berliner „Musikerkollektivs“ (warum muss in Berlin immer alles ein „Kollektiv“ sein?) Spiritczualic Enhancement Center zu hören? Klar: Drogenmusik. Bekiffte Audiotrips mit bedächtigem Rhythmus, gern mit dominantem Bass und gelegentlich ein bisschen Gitarrenflirren. Instrumental, versteht sich, und manchmal an der Grenze zur Massagepornomusik („Carpet Inauguration“), sich von dieser aber jedes Mal schnell wieder entfernend.
Die Musiker selbst sprechen von „Spektraljazz“ und einer Inspiration durch die „kosmische Musik“, was ein Kunstbegriff war, den ein LSD-verrückter Idiot in den 1970er Jahren propagieren zu müssen meinte, weshalb er heute pleite und verschollen ist. Zu Recht, wie ich meine. Ob Spiritczualic Enhancement Center auch pleite sind, weiß ich nicht, aber verschollen sind sie bisher nicht. Finde ich gut.
Erfreulicherweise verzichtet das „Kollektiv“ – wäh – auch darauf, den gleichen langweiligen Fehler wie die meisten anderen zeitgenössischen „psychedelischen“ Musikgruppen zu machen und Pink Floyd und/oder Hawkwind zu imitieren. „Spektraljazz“ passt schon als Bezeichnung. Etwas schade sind nur die hier auch vorkommenden fade-outs und sonstigen eher abrupten Enden (sofern man bei so entspannender Musik überhaupt von „abrupt“ reden kann), denn während Spiritczualic Enhancement Center Anfänge ganz gut hinbekommen, fehlt ihnen für gute Schlüsse anscheinend manchmal der Antrieb. Ich behaupte: wären die 1980er Jahre nicht gewesen, wäre das Ausblenden von Musikstücken die fürchterlichste Erscheinung, die je in die Musik Einzug gehalten hat. Schön ist das trotzdem nicht.
Alles Weitere aber schon, deshalb: Empfehlung.
Reinhören: Bandcamp.com (Vinyl ist aus).
Red Kite – Apophenian Bliss
Mal wieder ein bisschen Anstrengung zwischendurch, sonst langweilt ihr euch noch.
Red Kite, ein Instrumentalquartett und gleichzeitig eine supergroup, unter anderem mit Beteiligung der großartigen Elephant9, aus Norwegen, hat mit „Apophenian Bliss“ im November 2021 sein bisher zweites Studioalbum veröffentlicht. Gitarre, Bass, Schlagzeug und Fender Rhodes, wobei insbesondere das Schlagzeug eine dominante Rolle einnimmt, überzeugen mit einer merkwürdigen Zusammenstellung von Jazz- und Space-Rock-Elementen, wobei diese Fusion schon im zweiten Stück „This Immortal Coil“ – mit fast achteinhalb Minuten Laufzeit das drittlängste auf dem Album – sich als „brennbar“ (Quelle: Internet) erweist. Von „Metal“ und „Heavy Prog“ quatscht das Etikettennetz. Ich mag keine Etiketten.
Selten – „Apophenia“ ist eines dieser Beispiele – wird der Space-Rock-Anteil merklich reduziert und macht Platz für eine interessante Mischung aus Bluesrock (mit singender Gitarre) und dem jetzt schon etablierten Jazz; dafür dürfen im folgenden „Red Kite Flight“ Schlagzeug und Bass wieder eskalieren. Eskalation ließ sich bei der Produktion von „Apophenian Bliss“ kaum vermeiden, fiel ihr Beginn doch auch mit der Eskalation der Pandemie zusammen. Mancherlei Musiker Kreativität haben die erschwerten Aufnahmebedingungen jedenfalls offenkundig keinen nennenswerten Schaden zugefügt. Die einzige Coverversion auf dem Album, das Psych-Jazz-Stück „Morrasol“, wurde von dem Saxophonisten und Komponisten Gisle Johansen geliehen, der „Death Metal und Coltrane gleichermaßen mag“ (Quelle: Internet). Schöne Mischung. Schönes Album.
Reinhören: Stream bei Bandcamp.com und TIDAL, Kauf Amazon.de.
Weston Super Maim – 180-Degree Murder
„End me or I erupt“ (180-Degree Murder)Kurz und schmerzhaft: Der/die/das EP „180-Degree Murder“ – wunderbares Coverbild auch – ist ungefähr eine Viertelstunde lang und enthält zwei Stücke, namentlich das Titelstück sowie „We Need To Talk About Heaven“. Die Band Weston Super Maim ist ein britisch-US-amerikanisches Duo und setzt mit diesen zwei Stücken ein angemessen brutales Ausrufezeichen unter dieses verdammte Jahr 2021, obwohl „180-Degree Murder“ bereits im Juli 2021 rauskam. Macht ja nichts.
Musikalisch bekommt der Hörer es mit Tech-Metal und Mathcore zu tun, es wird gegrölt und gebrüllt und nicht gesungen. Das wäre auch eine sehr alberne Kombination. Die beiden Musiker verweisen auf Meshuggah als relevante Inspiration und dem zu widersprechen läge mir fern. Es gibt sogar 12-Zoll-Vinyl zu diesem kurzen Ausflug ins Extreme. Ich wünschte, das könnte ich von allen Alben sagen, die ich 2021 zu schätzen gelernt habe.
Reinhören: Bandcamp.com, TIDAL. Tut fast gar nicht weh.
Zement – Rohstoff
Na gut, ich gebe es zu: Ich mag Kraftwerk nicht.
Das schließt mich möglicherweise von Diskussionen mit manchen Zeitgenossen aus, denn auch auf der anderen Seite des Musikhörerspektrums gibt es ähnliche Dickköpfe wie mich; aber ich kann es begründen: Obwohl sie als wirklich hörbare Krautrockband angefangen haben, sind sie sehr schnell in eine sehr langweilige elektronische Schiene abgebogen, die sich, glaubt man überschwänglichen Rezensenten, noch bis heute vor allem dadurch auszeichnet, dass da so schön wenig passiert und deswegen so schön viel Platz ist für so schöne Langeweile. Gleichbleibende Rhythmen, kaum eine neue Idee in den aktiven Jahrzehnten. Der Kunde („Hörer“) honoriert es als „seinem Stil treu bleiben“ oder so. Gähn.
Statt auf der Autobahn zu fahrnfahrnfahrn, werfe ich mich mitsamt meinen Kopfhörern lieber in den Mischer, denn hier produzierte das Würzburger Duo Zement 2021 neuen „Rohstoff“, wie dessen aktuelles Album – das bereits dritte Vollzeitwerk – heißt. Ähnlichkeiten zu Kraftwerk, vom Einsatz monotoner „Roboter“-Stimmen bis hin zu ebenfalls recht gleichbleibenden Rhythmen, lassen sich kaum verkennen, aber Zement machen es besser, denn während Kraftwerk ihre Krautrockwurzeln derart intensiv dem ewigen Vergessen überantwortet haben, dass in ihrem „Katalog“ (so heißt die ab 2009 in verschiedenen Versionen veröffentlichte Werkschau) die ersten drei Studioalben überhaupt nicht vorkommen, sind Zement nicht ganz so dämlich; hier darf auch mal eine Gitarre zu hören sein (etwa im polyrhythmischen Jazz-Ausflug „Kleiner 3“) und immer wieder schwingt die gute alte Psychedelik mit.
Im etwas zu kurzen „Zunder“ bedauert die Roboterstimme, etwas sei „such a shame“, aber von den Achtzigern lassen Zement, die dieser Stimme ein dominantes Saxophon entgegensetzen, ansonsten die Finger. Ist auch besser so. Die Achtziger waren musikalisch fürchterlich. Das längste Stück hingegen heißt „Entzücken“, folgt direkt auf „Zunder“ und ist über zehn Minuten lang. Ich bin entzückt. Mit „Atem“ endet „Rohstoff“ in einer Instrumentaleruption mit irrlichternder Gitarre und schier ungezügeltem Schlagzeug, wie man sie in dieser Ecke der elektronischen Musik gar nicht mehr erwartet hätte. Ich mag es, wenn ungenügende Erwartungen weit übertroffen werden.
Reinhören: Komplettstreams gibt’s bei Bandcamp und TIDAL, Hörschnipsel und (theoretisch) Stream und Kauf diesmal auch wieder auf Amazon.de.
Moor Mother – Black Encyclopedia of the Air
„I’m too fucking high.“ (Zami)Das erste Stück von „Black Encyclopedia of the Air“ erinnert mich spontan und daher unüberlegt an die von mir anderswo schon mal rezensierte neuere Musik von I Like Trains, aber auch an die elektronische Musik der 70er und frühen 80er Jahre. Irgendwie unwirklich verträumt wabert das minimalistische Stück „Temporal Control of Light Echoes“ zur Eröffnung desjenigen Albums aus dem Kopfhörer, das die in Rap und Jazz bewanderte US-Amerikanerin Camae Ayewa alias Moor Mother im Scherz ihr „Ausverkaufsalbum“ nannte, da es zugänglicher sei als manches, was sie zuvor herausgebracht habe.
Nun bin ich mit dem bisherigen Wirken von Moor Mother nicht vertraut und verlasse mich somit auf meine eigenen Eindrücke. Zu diesen zählt, dass neun von den enthaltenen dreizehn Stücken einen oder mehrere Gastmusiker aufweisen, die ich allesamt ebenfalls nicht kenne. Prima. Ich mag mir zuvor Unbekanntes in der Musik manchmal. Und tatsächlich: Es wird gerappt.
Ja, ja, Rap ist keine Musik, er genügt der Definition von Musik gemäß der deutschsprachigen Wikipedia nicht und so weiter und so fort. Das macht aber nichts, denn die musikalische Begleitung bleibt doch eher jazzig. Mir ist, als hörte ich eine US-amerikanische Konkurrenz zur Jazzkantine, aber mit noch tiefer im spacig Verspielten unterwegs. Textlich ist das Album weniger beschwingt, es geht in den meisten Stücken um den US-eigenen Rassismus, mitunter aber auch um Lehren aus dem Leben der Vorfahren („Tarot“) und die Freiheit zu leben, wobei das resignierende Schlussstück „Clock Fight“ sicher nicht hoffnungsfroh stimmen sollte. Vorhaben für die Zukunft: Öfter mal auf die Texte hören, auch wenn’s bloß Englisch ist. Dieses Vorhaben habe ich in letzter Zeit ein wenig vernachlässigt.
Während ich dies tippe, merke ich, dass ich unbeholfen an diese Art von Musik herangehe. Sie überrascht mich, weil ich diese Kombination nicht gewohnt bin. Sind die weniger „zugänglichen“ Früherwerke von Camae Ayewa wirklich anstrengender oder nur herausfordernder? Ich sollte das irgendwann mal herausfinden.
Am Ende zählt aber ohnehin nur: Gefällt’s oder gefällt’s nicht? Ganz ungeachtet der Textexegese, für die mehr Szenekenntnisse meinerseits wahrscheinlich notwendig wären: Mir gefällt’s; auf eine ganz neue Art gar. Das muss erst mal reichen.
Reinhören: Für bloße Auszüge ist das Album zu schade, daher empfehle ich hier nur den Komplettstream via Bandcamp und/oder TIDAL. Haptisch interessantere Tonträger – also: überhaupt Tonträger – hingegen bietet Amazon.de an, bei Bandcamp wird man diesmal zurzeit nicht fündig. Schade eigentlich.
Tomahawk – Tonic Immobility
„Got a birthing coach with a COVID smile / We labor alone today“ (Doomsday Fatigue)Zum Abschluss dieser Liste muss dann doch noch ein wenig anständige Rockmusik her.
Mike Patton möchte ich nicht sein müssen, der von mir geschätzte Herr ist anscheinend zu schnell gelangweilt und muss darum dauernd irgendwas machen. 2021 hat er, mittlerweile 53 Jahre alt, zum Beispiel neben den reaktivierten Mr. Bungle auch seiner seit 2020 wieder formierten Experimentalrockband Tomahawk zu einem neuen Studioalbum verholfen. Es heißt „Tonic Immobility“ und ist erwartungsgemäß vortrefflich gelungen.
Zeitlos im klassischen Sinne ist es nicht, denn unter anderem wird auf Doomscrolling während der Pandemie („Doomsday Fatigue“) und zeitgenössische Körperideale („Business Casual“) Bezug genommen. Stilistisch passiert auf „Tonic Immobility“ jede Menge, ich höre Nu Metal, Grunge, Country („Howlie“; trotzdem gut und vor allem zum Ende hin eine höchst angenehme Eskapade) und gelegentlich auch etwas Punkrock. Zum Glück muss ich im Saturn nicht die Plattenregale sortieren. Keine Ahnung, in welche Schublade dieses Album reinmüsste. Einen roten Faden gibt es nicht, aber das tut dem Hörvergnügen keinen Abbruch. Es rockt. Braucht man immer mehr?
Ich könnte hier einen Indianerwitz machen, aber den lasse ich begraben wie andere das Kriegsbeil. Stattdessen spreche ich diesem Album meine wärmste Empfehlung aus. Hugh.
Reinhören: Amazon.de oder eben auch TIDAL. Dort sind alle enthaltenen Stücke als explizit gekennzeichnet. Weicheier.
Fragen, Kritik, Anmerkungen und Liebeserklärungen nehme ich gern als Kommentar entgegen. Ansonsten: Fortsetzung folgt!
So sehr ich auch Scheiß-Fan des Sarkasmus bzw. der feinen Beobachtungen des Herrn Hirnficks bin: Das ist typische Kneipenhocker-Musik. Wer, warum auch immer (kann nicht tanzen/hat sich nicht getraut/hatte nur männliche Freunde) in seiner „Prägungsphase“ nie in eine Disko hineingestolpert ist – der findet dann gleichsam als Akt der Abwehr Kraftwerk öde, wahrscheinlich auch „Disco“, „House“ und „Techno“. Und hört dann so einen Krampf. Habe mir die erste Hälfte der Empfehlungen angetan, ach Du meine Güte. Bin dennoch weiterhin Fan. Was ist heutzutage schon Musikgeschmack, da niemand mehr eine Plattensammlung sein eigen nennt. So egal wie eine Backrezeptesammlung. Ist er denn ge„impft“, das ist die Frage (Achtung, Ironie. Was geht es einen an, verdammt nochmal)!