André Westphal von „Caschys Blog“ benennt es als „Problem“: Der Markt für neue Musik schrumpft, dafür verkaufen sich die alten Sachen gut. Ted Gioia von „The Atlantic“ behauptet in seinem merkwürdigen Artikel, das liege nicht daran, dass neue Musik schlechter wäre als alte Musik, und dass Schallplatten nur deshalb eine wirtschaftliche Renaissance erlebten, weil sie als altes Medium und damit als besser wahrgenommen würden. Dass Schallplatten schlicht dasjenige konsumententaugliche Medium sind, das am längsten halten wird (CDs sind nicht nur chemie‑, sondern auch kratz- und staubanfällig, Streamingdienste verschaffen keinen garantierten Besitz und Festplatten haben auch eine endliche Lebenserwartung), kommt in diesem Kontext nicht vor, was ich etwas schade finde.
Aber auch die sonstige Prämisse für die Abhandlung über den gegenwärtigen Musikmarkt, der sich vor allem mit Neuauflagen gut abgehangener Klassiker über Wasser hält, halte ich für zu kurzsichtig. Natürlich ist die Musik von vor Jahrzehnten besser als die heutige, denn es ist heutzutage schwierig geworden, eine Plattenfirma zu finden, die auch mal ein musikalisches Wagnis eingeht. Viele Musiker in den aktuellen Radiohitparaden sind entweder schon lange im Geschäft oder man wird nach ihrem derzeitigen hit nie wieder etwas von ihnen hören. Es wird Wegwerfmusik produziert, die nicht provozieren soll, nicht anecken, nicht mal irgendwie auffallen. Hyperaktive Produzenten und Texter schreiben – falls sie nicht einfach eine Coverversion von irgendwas rausbringen wollen – ungezählte Banalitäten, suchen sich dann irgendein hoffnungsvolles Allerweltsgesicht zwecks Intonation derselben und ziehen anschließend weiter, um das wieder und wieder zu wiederholen – nur ist Musik, deren Interpreten kein Herzblut in das Intonierte stecken, weil sie letztendlich nichts anderes tun als eine fremde Geschichte vorzulesen, nie mitreißend, sondern immer gefühlsarm; wenn nicht gar: blutleer.
Because something is happening here,
but you don’t know what it is -
do you, Mister Jones?
Bob Dylan: Ballad of a Thin Man
Nein, „alte Musik“ tötet nicht die „neue“ Musik, wie’s bei „The Atlantic“ behauptet wird. Die „neue“ Musik, die man eben so kennt, hat vielmehr nie zu leben begonnen. Richtig ist aber auch: Wie schon seit dem Bestehen von Plattenfirmen gibt es bis heute immer wieder Musiker, die wenigstens neue Wege zu beschreiten versuchen. Heutzutage gibt es zumindest die Möglichkeit, den Vertrieb gegen vergleichsweise geringe Geldeinbußen von darauf spezialisierten Plattformen wie Bandcamp abwickeln zu lassen, so dass die Ausdrucksfreiheit nicht von wirtschaftlichen Erfordernissen getrübt werden muss. Diese zahlreichen Eigenvertriebskünstler aber zu finden ist gar nicht besonders leicht, denn die Nadeln im virtuellen Heuhaufen sind zwar zahlreich, jedoch ist dieser Heuhaufen auch weit davon entfernt, noch eine überschaubare Größe zu haben. Ich lasse mir wenigstens einen Teil dieser Nadeln gern von ungefähr einem regelmäßig gelesenem Dutzend Fachmagazinen und ‑blogs wie der „VISIONS“, Betreutes Proggen, NEØLYD und Doom Charts, die mir quasi als Perlentaucher zu Diensten sind, vorsortieren, aber diese bilden natürlich auch in Summe immer nur einen Auszug aus dem interessanten Teil des Angebots ab. Bei Bandcamp gibt es zumindest eine Liste an Empfehlungen zu jedem Album: Wer das mochte, der mochte auch… Dass auch das aber niemals dazu führt, dass man alles kennenlernt, schon weil man nebenbei ja auch noch ein sog. „Leben“ zu führen hat, ist mindestens als bedauerlich zu verstehen.
Da die Zielgruppe derer, die anspruchsvolle neue Musik zu hören wünschen, nicht durch ihre Größe besticht, hält sich das allgemeine Interesse daran, diesen Fundstücken eine größere Bühne zu geben, ebenfalls in Grenzen. Auf die Musikpresse, online wie offline, zu hoffen scheitert jedenfalls trotz weniger löblicher Ausnahmen daran, dass Auflage, Werbekunden und so weiter eine stärkere Metrik sind als die aufmerksame Begleitung zeitgenössischer Musikkultur; allein schon die Wahrnehmung von Musik als Kulturgut und nicht bloß als Ware ist längst eine Ansicht, die zu wenige Anhänger findet.
Ich hätte nichts dagegen, wenn das Radio, das Musikkonsummedium der Gestrigen, das befürchtete Verhalten tatsächlich zeigen würde und statt des „besten Mixes“ und der „Hits der 90er“ nur noch die Musik der Gestrigen spielte, aber mir ist das Radio auch egal. Allein das Vorhandensein von „Mixen“ scheint mir ein Teil des Problems zu sein: Während vor einigen Jahrzehnten noch Singles die maßgebliche Darreichungsform populärer Musikstücke waren und daher separat betrachtet werden konnten, haben schon bald Musikalben als Gesamtkunstwerke das Korsett geweitet. Das Aufkommen von Streamingdiensten als – zu oft – Ersatz einer eigenen Musiksammlung in direkter Folge des Siegeszuges des iPod Shuffle (der außer einer Zufallswiedergabe des Gespeicherten eben absichtlich nicht viele Funktionen hatte; dass sich ausgerechnet das Wort „Podcast“ trotzdem so lange im allgemeinen Sprachgebrauch behaupten kann, mutet übrigens immer noch merkwürdig an) hat diese Errungenschaft freilich negiert. Wer nimmt sich schon noch die Zeit für ein gutes Buch, ein gutes Musikalbum oder einen guten Whisky?
Dass es immer noch Leute gibt, die großartige Musik von vor fünfzig (oder mehr) Jahren nur ungern durch zeitgenössische Hervorbringungen ersetzen möchten, ist meiner Meinung nach durchaus wenigstens zum Teil dem Umstand geschuldet, dass es nur wenig gibt, was das „Neue“ dem „Alten“ voraus hat. Das trägt sicherlich auch dazu bei, dass es mehr Spaß macht, nach „Neuem“ zu fischen; deshalb aber dem „Alten“ verständnislos zu begegnen, weil es das „Neue“ marginalisiere, wie Ted Gioia schreibt, ist möglicherweise nicht der beste Ansatz, dem zu begegnen.
Nachtrag: Der Autor einer anderen Netzpublikation frug, was der Punkt in der Überschrift solle. Ist doch klar: Das ist ein Hauptsatz.
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