Na gut, wenigstens eine späte Musikrückschau für das schreckliche Jahr 2020 gibt es – nur geringfügig verspätet – doch noch. Man verzeihe mir, dass sie kürzer ist als sonst – bei einigen anderen Alben konnte ich nicht an mich halten und ließ mich zu einer Rezension praecox hinreißen. Man wühle in der Blogkategorie, so’s gefällt: Von Eminem über das gar nicht so geschriebene Kombynat Robotron bis hin zu – obwohl deutschsprachiger Gesang nachweislich krank macht – den Die Ärzte war stilistisch alles Notwendige dabei, sogar ein bisschen Postrock. Mir sei verziehen, dass ich auf veränderte Hörgewohnheiten auch diesmal keine Rücksicht nehme: Ist ein Stück länger als vier Minuten, so wird es hier trotzdem zum Reinhören empfohlen; nicht (nur), weil ich Sadist bin, sondern auch, weil ich Musik mag.
Und zwar folgende:
Toundra – Das Cabinet des Dr. Caligari
„Das Cabinet des Dr. Caligari“, weiß die Wikipedia, sei „ein deutscher Horrorfilm von Robert Wiene aus dem Jahr 1920“, den ich aber nie gesehen habe, weil mich Horrorfilme schon hinsichtlich ihrer beabsichtigten Wirkung nicht interessieren. Wohl aber interessiere ich mich für Musik. Es verbinden beides miteinander aber unter anderem Toundra aus Madrid, die das hundertjährige Jubiläum des Films genutzt haben, um ihn noch mal anders zu vertonen.
Der Film besteht aus sechs Akten und der Titelsequenz, ebenso ist auch dieses Album aufgeteilt, denn es soll als Begleitung desselben wiedergegeben werden (hierzu siehe „Reinhören“). Zu hören gibt es „Film-Musik“ im Wortsinne, wobei auch das genre – ich glaube immer noch nicht an die Existenz von Genres – passt, denn Toundra spielen seit ihrer Gründung im Jahr 2007 meist instrumentalen Postrock mit gelegentlichen Ausflügen in den Postmetal, also mit etwas verzerrteren Gitarren, etwas lauterem Bass und etwas hektischerem Schlagzeug. Ein Rezensent im Internet fand „Das Cabinet des Dr. Caligari“ (das Album) langweilig, ich finde es wenigstens ungewöhnlich, denn das vorhersehbare Laut-leise-Spiel steht hier zugunsten der Synchronität von Bild und Ton zurück, wofür man wahrscheinlich dann doch gleichzeitig den Film sehen muss.
Reinhören: Auf Vimeo werden Film und Album zugleich abgespielt, ansonsten gibt es das Album natürlich auch in Schnipseln auf Amazon.de und in Gänze per TIDAL.
Heads. – Push
Heads. – der Punkt gehört zum Namen – aus Berlin (und Australien) sind namentlich ein Symptom der modernen Zeit, die Köpfe über Inhalt stellt. Trotzdem ist der Inhalt gar nicht mal furchtbar: Ich höre Noiserock mit deutlichem britischem Akzent im Gesang. Globalisierung wirkt.
Der Anfang („Empty Towns“), der als reprise im letzten Stück nochmals aufgegriffen wird, wirkt bedrohlich, kommt aber fast irreführend sanft daher. Nach einer überraschenden Welle aus Noise, Metal und Postpunk drosselt die Band mit dem Indie-Rock-Lied „Loyalty“ das Tempo wieder etwas herunter. Die etwas nölige Stimme des Sängers stört mich ein bisschen, aber Lou Reed hat es ja auch in meinen Plattenschrank geschafft. Der Vergleich sei unfair, heißt es jetzt vom Publikum? Ja, das ist er wahrscheinlich. Was ich ausdrücken wollte: Dieses Album reißt nicht mal der Gesang noch runter. Das ist doch auch schön.
Auch später („A Swarming Tide“) lässt die Band dem Hörer immer mal wieder eine kurze Verschnaufpause, aber es stimmt schon: Viel Platz für friedvolle Momente wird hier nicht gelassen. Macht nichts. Ich habe eh schlechte Laune.
Reinhören: Einen Komplettstream gibt es bei TIDAL und Bandcamp, dazu noch Schnipsel und Kauf auf Amazon.de.
Danheim – Skapanir
Mongolenmönche beschwören antike Wikingergötter im Kampfgetrommel. Herrlich.
Charivari – Descent
Vier Can-kundige Engländer huldigen postrockend der Berliner Schule, es wird sphärisch gesungen. Mehr Text braucht es nicht.
Reinhören: Warum nicht mal TIDAL, Amazon.de oder Bandcamp?
taumel – there is no time to run away from here
taumel sind nicht nur eine Beschreibung meines Heimwegs nach dem Stammtisch, sondern auch zwei bis vier Herren aus Rheda-Wiedenbrück.
Es werden auf „there is no time to run away from here“ fünf Stücke dargeboten, die die Titel „there is“, „no time“, „to run“, „away“ und „from here“ tragen, wobei die ersten beiden ineinander übergehen. Zu hören ist sehr langsamer Postrock ohne Gitarrengewitter. Wer die vermeintlich ruhigeren Momente von Mogwai mag, der mag auch dieses Album, wage ich zu versprechen.
Die hier ausgebreiteten Klanglandschaften sind eher ein Sonnenaufgang über der Wüste als ein prasselnder Wasserfall. Gerade das von Manuel Viehmann gespielte Flügelhorn (besonders durchdringend in der zweiten Hälfte von „to run“) vermittelt Hoffnung, obwohl ich selbst nicht so genau weiß, worauf. Trotzdem fühlt sich dieses Album nach Geborgenheit an und das kann man ja auch nicht von jedem Album behaupten. Das abschließende „from here“, getragen von Klavier und wenig Perkussion, ist insofern ein angemessener Abschluss, als es die Ruhe und Behäbigkeit von taumel auf die Spitze treibt.
Das Album ist instrumental: Kein Gesang, kein Gekreisch, kein Gestöhne. Die Leute halten ja viel zu selten die Fresse dieser Tage. Auch mal schön.
Airbag – A Day at the Beach
Ein schwieriges Album, gebe selbst ich zu, der schwierige Alben ja durchaus zu schätzen weiß.
Mit „Machines and Men“ beginnt die Band aus Oslo ihren „Tag am Strand“ mit einem Überzehnminüter, der den industrialgeimpften Artpop der Achtziger nicht wiederholt, sondern ihm seine Reverenz erweist, wenngleich mit besserem Gesang und ohne die ollen Plastikorgeln. Der folgende Teil 1 des Titelstücks verneigt sich vor Roxy Music und David Gilmour zugleich, verleugnet aber nicht das Selbstverständnis von Airbag, die sich sowohl als „Classic-Rock-“ als auch als „Progressive-Rock-Band“ begreifen (Quelle: Internet). Das Verstörendste an diesem Album ist das Coverbild.
Der zweite und letzte Überzehnminüter „Into the Unknown“ hebt nochmals die Nähe zu Pink Floyd hervor: Das Stück ist – wie die meisten von Pink Floyd – einfach zu lang. Nein, Scherz beiseite: Es geht um die Stimmung. Sanfte Gitarrensoli über wabernden Keyboards gibt es nach der Effektpause mittendrin, schon zuvor aber ist das Bedrückte, das auch über dem letzten Pink-Floyd-Album (dem mit dem Fluss, nicht dem mit dem Puls) schwebt, das bestimmende Element. Immerhin das folgende „Sunsets“ reißt dann wieder mit 80er-Elektrobeats aus dem milden Schlummer. Depeche Mode? Klingt doch alles gleich. Der Mitnickrefrain und die darin zu hörende Gitarre gefallen. Davon ein ganzes Album und ich würde weniger skeptische Kommentare anbringen. Vielleicht.
Teil 2 des Titelstücks davidgilmourt schon wieder. Für die, die es noch nicht verstanden haben: Airbag finden David Gilmour total schnafte. Für mehr von David Gilmour einfach Airbag hören. Ich verstehe das Konzept, ich mag dieses Album (weil es die langweiligen Teile von David Gilmours eigenen Werken ersetzt, nämlich den öden Gesang), aber für die, die eine eigenständige Arbeit hören wollen, ist das hier nichts. Da hilft auch das abschließende „Megalomaniac“, mein Lieblingsstück auf dem Album, weil es den 80er-Artpop, die 70er-Stimmung, die überraschenden Stilwechsel und die bemerkenswerte Gitarrenarbeit miteinander vereint, kaum.
Abgeschreckt? Nein? Ich auch nicht.
Reinhören: Amazon.de hat Stream und Kauf und Hörproben, bei Bandcamp und TIDAL sind aber ebenfalls Streams zu haben.
Elizabeth the last – Task
Ich finde, viel mehr deutsche Bands sollten heißen wie eine Figur aus einer hypothetischen Adelspersiflage, aber ich finde auch, es gibt zu wenige zeitgenössische Adelspersiflagen. Elizabeth the last bringen jedenfalls instrumentalen Doom-Post-Sonstwasmetal zu Gehör, der mir zusagt. Ich mag ja so Gitarrenwände.
Die fünf Stücke haben bis zu elfeinhalb Minuten Länge und klingen genau so wie alles andere aus dem Genre; nämlich wie etwas, das nicht zu kennen ich sehr schade fände. Freunde des Kopfnickens zu verschobenen Rhythmen mögen ihren Nacken ölen und ab geht’s.
Ich habe schon mal angefangen.
Reinhören: Für Amazon.de hier entlang, für TIDAL dort entlang.
The Ocean (Collective) – Phanerozoic II: Mesozoic | Cenozoic
Man merkt es den englischsprachigen lyrics nicht an, aber The Ocean (mitunter auch: The Ocean Collective) sind eine Band aus Berlin (auuuus Berlin, jaja), die im Wesentlichen handwerklich guten Progressive Metal spielt. Wer aus dieser musikalischen Ecke nur Tool kennt, der liegt mit diesem Vergleich nur wenig daneben, denn sich an Tool zu messen gelingt wenigen. Ich persönlich halte Tool aber für langweilig, deshalb höre ich stattdessen zum Beispiel The Ocean.
Es gibt schon im ersten, mich bereits hinreichend überzeugten Stück „Triassic“ – das Album umfasst die erzählerische Zeitspanne vom Trias bis zum Holozän – bretternde, aber auch mal frickelnde Gitarren und Wechsel zwischen sanftem Gesang und hartem Gegröl („growling“), später auf dem Album kommen unter anderem Bläser hinzu. Über verschiedene Erdzeitalter haben The Ocean unterschiedlich viel zu erzählen: „Jurassic | Cretaceous“ ist 13:25 Minuten lang, weist aber auch Längen auf, also mehrere Momente, die man auch kürzen könnte, ohne wichtige Botschaften streichen zu müssen; „Miocene | Pliocene“ hingegen dauert nur 4:40 Minuten, ist dabei aber auch nicht zu kurz. Was will man über Mio- und Pliozän auch groß erzählen?
Dass The Ocean neben der Fähigkeit zu Brachialem bis hin zum Black Metal („Pleistocene“) auch viel Wert auf Atmosphäre legen, beweisen die auf diesem Album nicht seltenen Momente wie die leider etwas zu kurze Shoegazeverschnaufpause „Oligocene“. Das abschließende „Holocene“ greift stilistisch und textlich nochmals die Themen von „Triassic“ auf, ist nur etwas reicher instrumentiert. Die Geschichte ist ein Kreis, jedes Ende ist auch ein neuer Anfang. Das Album „Phanerozoic II: Mesozoic | Cenozoic“ gibt es für Gesangsscheue auch als Instrumentalversion. Sind die Texte also wichtig? Ist irgendwas wichtig?
Anderswo nannte man „Phanerozoic II: Mesozoic | Cenozoic“ zusammengefasst große Kunst. Und ist das nicht alles, worauf es ankommt – die Kunst?
Reinhören: TIDAL, Bandcamp oder halt Amazon.de.
Jesu – Terminus
Jessas! Jesu – gegründet in der Zeit, in der die Mitglieder von Godflesh lieber etwas anderes machen wollten als bei Godflesh zu spielen – ist ein englisches Bandprojekt um die einzige personelle Konstante Justin Broadrick, der eigentlich auch alle Instrumente nebst Mikrofon allein aufnehmen könnte, aber das nicht immer tut.
Obwohl Justin Broadrick der Ansicht ist, seine Musik sei vor allem Pop, was der lästigen Genrediskussion zumindest eine angenehm absurde Komponente beifügt, nehme ich hier hauptsächlich Shoegaze und Electronica als Zutaten wahr, hinreichend ausgedehnt, dass es die zweieinhalb Minuten, die im Radio zwischen zwei Werbeblöcken derzeit zur Verfügung stehen, mehrfach überbelegen müsste. Glück gehabt. Radiohörer sind sicher nicht das angenehmste Publikum.
Meine erste Assoziation waren Aereogramme, aber das kann auch daran liegen, dass ich Aereogramme zu lange nicht mehr gehört habe, während ich das hier aufschreibe. Die Musik von Jesu ist aber weit weniger rockig, eher ausladend-atmosphärisch. Zwar blitzt gelegentlich (etwa im Titelstück) auch mal reinrassiger Postrock hervor, das Album wird aber beherrscht von melancholischen Arrangements, denen anderswo nachgesagt wird, sie versprühten Einsamkeit, Depression und Reue. Das stimmt sogar.
„Terminus“ ist – wie so viele Postrock- und Shoegazealben – eigentlich ein sehr gutes Herbstalbum geworden, also eines, zu dem man drinsitzt, während es draußen regnet, und schwere Getränke zu sich nimmt, aber im Herbst habe ich diese Liste ja bereits prokrastiniert. Tut mir leid.
Man höre „Terminus“ dann also etwas später, zum Beispiel noch heute. Es ist nie zu spät.
Reinhören: Möglich ist das unter anderem auf Amazon.de und TIDAL.
Six Days of Calm – The Ocean’s Lullaby
Leise Töne und ein Stimmengewirr eröffnen „The Ocean’s Lullaby“, das Debütalbum der „filmischen Postrockgruppe“ (Six Days of Calm über Six Days of Calm) Six Days of Calm aus Würzburg. Gesungen wird nicht, stattdessen gibt es Klangwelten und nur manchmal nicht weiter bedeutsame Sprachsamples. Filmisch „bassd scho“, wie man in Würzburg vermutlich sagen würde (ich bin ja nicht dort), ich würde Naturdokumentationen annehmen, irgendwas mit Bergen und Seen.
Dass Bandgründer Marc Fischer sich zuvor als Liedschreiber im Metalcore aufgehalten haben soll, wäre nicht anzunehmen, denn natürlich (bereits im eröffnenden „Breathe“) wird hier auch mal instrumental eskaliert, aber überwiegend hat man es mit weiten Klangflächen („Loss“) zu tun, in denen selbst das Schlagzeug manchmal nur als Beiwerk, aber nicht als wesentliches Rhythmusinstrument zu Einsatz kommt. Mir fallen 65daysofstatic und God Is An Astronaut als Vergleich ein, aber (selten) auch Oceansize und die doch sehr vermissten Dear John Letter. (Wenn ihr das – was mich überraschen sollte – lest: Carpet ist nicht gut. Macht das bitte nicht mehr.)
Six Days of Calm tragen ihren Namen nicht zu Unrecht. Das zu oft gehörte Laut-Leise-Spiel betonen sie auf dem Leise, das majestätisch erhabene und doch befreiend auslaufende Ende von „Loss“ steht dieser Einschätzung wie auch die anderen lauteren Momente (besonders unerwartet: „Obscure“) nicht entgegen, zumal das anschließende „Reflections“ mit Streichern und melancholischer Schönheit bereits den Kontrapunkt setzt.
Wer Postrock vor allem mit musikalischer Schönheit verbindet und den Gitarrentürmen anderer Genrekollegen weniger abgewinnen kann, der möge es hiermit versuchen. Ist nicht schlecht geworden.
Reinhören: Locker bleiben und entspannt – gern auch erst in sechs Tagen – Amazon.de, Bandcamp oder TIDAL aufrufen.
pg.lost – Oscillate
Zwar gewohnte instrumentale Postrockkost, wie üblich verfeinert mit raffinierter Elektronik, tischen pg.lost auf ihrem nicht mehr ganz neuen, aber noch aktuellen Album „Oscillate“, das – nun ja – auch im alten Laut-Leise-Spiel oszilliert, auf. Für Freunde der Gitarrenbreitwände ist das – wie immer – ein Muss-Hör (was stimmt heute eigentlich nicht mit mir?), für Postrocknichtkenner ist es kein sperriger Einstieg. Ich empfehl’s.
Reinhören: Amazon.de und TIDAL haben das Album im Repertoire, ebenso Bandcamp.
Lee Ranaldo & Raül Refree – Names of North End Women
Was kommt dabei heraus, wenn ein spanischer Komponist und ein ehemaliges Sonic-Youth-Mitglied zusammen ein Album aufnehmen? Es ist nicht, wonach es aussieht!
„Names of North End Women“ ist ein erstaunlich ruhiges Album geworden, das mehr an Leonard Cohen, John Cale und die Doors als an Sonic Youth erinnert, wenngleich mitunter (zum ersten Mal in „Words Out of the Haze“) Gitarreneffekte plötzlich auftauchen und ebenso plötzlich wieder verschwinden, deren Herkunft sich schwer leugnen lässt.
Komponiert wurde, behauptet das Internet, auf Marimba und Vibraphon, daher läuten Stücke wie „New Brain Trajectory“ auch wie diese deutlich lästigeren Weihnachtslieder, die jetzt zum Glück erst mal wieder nicht mehr zum Besten gegeben werden. Dazu gibt es verschiedene andere Instrumente vom Band, eigene und fremde Gedichte (oft als Spoken-Word-Vortrag) sowie die erwähnten Gitarren, selten akustisch von Elektronik zerrissen, die gemeinsam schönen Melodien folgen, die auch in Folk und Pop nicht auffallen würden. Das Ergebnis ist ein vordergründig angenehm entspanntes, aber doch brodelndes (man höre hierzu insbesondere das Titelstück) Stück Musik von zwei Menschen, die niemandem mehr ihr Können beweisen müssen.
Habe ich eigentlich schon die schönen Melodien angepriesen?
Reinhören: Diese Melodien gibt es auch unter anderem auf Amazon.de und TIDAL zu erkunden.
The Burden Remains – fluid
„Isch Schicksau nume Projektion und wär isch de Projäkter?“ (Fremdi Gstaade)„Aus isch teilt“, so heißt das erste Stück auf „fluid“, dem 2020er Album des Schweizer Quartetts The Burden Remains. Zu meiner großen sowohl Enttäuschung als auch Freude wird trotz des Bandnamens nicht auf Englisch oder gar Schwäbisch gesungen, sondern, mit Ausnahme des Instrumentalsechsminüters „Flussabwärts“, auf Schweizerdeutsch, stilecht mit überbetontem „K“. Das könnte den Bandnamen erklären. Hihi. „Gesungen“ ist andererseits auch falsch: Es wird geschrien. Fein.
Melodisch kommt mal ein von einem wahren Schlagzeugtrommelfeuer begleiteter Postpunk („Aus isch teilt“), mal ein schön ambientflächiger Laut-leise-Postrock („I de Fluet verhaut“), oft aber auch sogar gut passender Schrammelmetal mit, immerhin, hübsch brummendem Bass aus dem Kopfhörer. Für Freunde zurückhaltender Feinkunst ist „fluid“ sicherlich ungeeignet, aber Lärm muss ja auch nicht immer stilvoll sein.
Reinhören: „fluid“ gibt es auf Bandcamp, TIDAL und natürlich Amazon.de auszugsweise oder komplett zu hören.
Neptunian Maximalism – Éons
Genug der seltsamen Sprachen aus fremden Ländern – kommen wir zu … Moment, ich muss nachlesen … einer zumeist grunzend intonierten rekonstruierten menschlichen Protosprache, begleitet von vier Musikern aus Belgien. Von dieser Sprache ist während der zwei Stunden und acht Minuten, die dieses Album dauert, allerdings wenig zu hören, denn das weitgehend instrumentale Album behandelt zwar (schon wieder!) ein Erdzeitalter, beginnt aber thematisch mit der Zeit nach dem Anthropozän, in der intelligente Elefanten regieren. Folgerichtig sind Saxophon und Trompete zeitweise dominante Instrumente. Nach etwa zwanzig Minuten zerschneidet erstmals eine vergleichsweise rockige Gitarre die Atmosphäre, löst sich aber sogleich in einen Klangteppich auf.
„Éons“ besteht aus drei wesentlichen Teilen, der Erde, dem Mond und der Sonne gewidmet. Ich bin mir nicht ganz sicher, was das für ein genre sein soll – eine Verquickung von Kammer-Avant-Prog (ich weigere mich, die offensichtliche Referenz Univers Zéro hier unerwähnt zu lassen) mit zappaesquem Free Jazz käme dem Ergebnis schon nahe, wäre aber deutlich unvollständig. Zwei Stunden. Acht Minuten. Fünfundzwanzig Sekunden, aber darauf mag es auch nicht mehr ankommen. Die Dreifach-LP ist auf Bandcamp.com längst ausverkauft, und zwar nicht meinetwegen. Schade eigentlich. Nach etwa einer Stunde, natürlich höre ich selbst dieses Album am Stück, fällt seine Länge tatsächlich nicht mehr auf – ich habe, während ich dies hier aufschreibe, tatsächlich die Zeit vergessen. Jetzt, da ich nachgucke, sehe ich, dass ich mit dem zweiten Teil des Albums fast durch bin. Dass zwei der vier Musiker jeweils auch ein Schlagzeug bedienen, kommt hier gut zum Tragen, denn das (welches?) Schlagzeug peitscht den Jazzunterbau dominant voran. Dass die über zehn (bis zu 18:32) Minuten langen Stücke erst noch folgen werden, tut dem Genuss keinen Abbruch: Mit steigender Dauer des Hörens steigt auch der Spaß am Gehörten. Ich mag es, wenn ich nicht anfange, meinen Jubel in Worte zu fassen, und dann drei Absätze später feststelle, dass mir fast die Ohren eingeschlafen sind, weil dem starken Anfang ein starkes Nachlassen folgt. Nein, hier steckt Zeit in beide Richtungen drin und das ist gut.
Eine space opera sei in „Éons“ drin, befindet die Selbstbeschreibung, aber wenn „Éons“ eine Oper ist, dann finde ich Freddie Mercury zwar immer noch scheiße, aber sollte wahrscheinlich viel öfter mal Opern hören. Etwas spacig beginnt der dritte Teil, „To the Sun“, der auch tatsächlich über zehn Minuten braucht, um wieder den Kammerprog vom Anfang in Erinnerung zu rufen, mit seinem bedrohlichen, flächigen Brummen zwar doch, aber Gläser werden hier nicht zersungen. Muss ja auch nicht sein, das ist immerhin teuer. Anders als „To the Earth“ (Japanisch und Akkadisch) und „To the Moon“ (Henochianisch und Tibetisch) tragen in „To the Sun“ alle Titel griechische Namen. Keine schöne Aussicht, dass das Zeitalter der Elefanten wieder mit alten Griechen endet. Andererseits: Das letzte Stück trägt den ausnahmsweise englischen Untertitel „We Are, We Were and We Will Have Been“ – „wir sind, wir waren und wir werden gewesen sein“. Das schöne Futur II gibt ein Bonusbienchen im Heft, das ist ein klares Bestanden.
Reinhören: Neben Bandcamp – dem Portal mit der ausverkauften Dreifach-LP – fallen mir spontan auch Amazon.de und TIDAL, beide von vornherein ohne Vinylangebot, ein.
Ingrina – Siste Lys
Ingrina wiederum kommen aus Frankreich, aber das merkt man ihnen nicht an. „Atmospheric Metal“ soll das hier sein und das ist es fürwahr: Zwei Schlagzeuger, drei Gitarristen, ein Bassist und Gesang, der klingt, als käme er direkt aus einem höllischen Abgrund – da lässt sich schon ordentlich Atmosphäre erzeugen.
„Siste Lys“ ist schon namentlich ebenso ein Konzeptalbum wie der Vorgänger, das Debütalbum „Etter Lys“, wobei drei der Stücke zwecks Neubearbeitung einfach noch mal verwendet wurden. Besagten Vorgänger kenne ich bisher nicht, deswegen ist das nicht so schlimm. Manches hier klingt wie ein vertontes futuristisches Industriegelände („Walls“), aber es dominiert Wüstenplanetendzeitstimmung. Ich mag das. Alles auf „Siste Lys“ ist Post-irgendwas: Post-Metal, Post-Hardcore, mitunter („Casual“) aber auch einfach nur Post-Rock. Bonusfeature: Die gelegentlichen Gitarrenbretter („Now“ et al.) spülen nach dem Genuss genüsslich ausgewalzter Vulkanlandschaften wieder die Ohren frei.
Reinhören: Bandcamp, TIDAL und – zum heute letzten Mal – Amazon.de.
So, reicht jetzt mit 2020. Auf 2021 aber komme ich bei Gelegenheit noch zu sprechen.
Bis dahin wünsche ich höchsten Genuss in allen Belangen.
Ich finde, es wird mal Zeit für ein Musikquiz hier. Tux spielt Drum Solos an, und der Rest muss Band, Stück und Land erraten.
Könntest ja mal den Anfang machen, vielleicht machen die Anderen dann auch mit.
Da brauch ich ja wieder ewig bis ich das alles durchgehört habe. Toll, dabei wollte ich doch die fünfte Staffel vom Bachelor schauen.
Gern geschehen.
Uff, der ist ja so groß wie du weißt schon wer :-O.
Penis!
Eine der Empfehlungen (Edit Peptide von Bubblemath, ist schon ein wenig her) hat es über diesen Blog sogar mal bis in die Vorlesungen an einer Musikhochschule geschafft – die Mühe findet also Adressat*innen (m/w/d). ;-)
Ein Leser mehr!
Achgott, ich vergesse Bands einfach zu schnell.
Ich werde in Hochschulen behandelt? Als abschreckendes Beispiel?
Ich habe ein paar Jahre (aus Gründen) meine Musikgeschichtsseminare (Mo., 13.00) immer mit den Pawlowschen Worten „Es ist Montag!“ begonnen, und Bubblemath (und ein paar andere, Pomrad, Collier und so) sind perfekt für alle diejenigen, die vom Hochschul-Jazz die Schnauze voll haben…
Dein Blog zieht also Kreise, nix abschreckend – ganz im Gegenteil!
Ach, schade. Ich habe mir so viel Mühe gegeben.
Fail!
Soziopathie gibt’s bei uns zwar nur als Nebenfach (0,5 ECTS), wird aber ansonsten schon durchgängig in allen Veranstaltungen quasi durch Osmose unterrichtet.
Wenn Du Bock hast, schickt mir doch mal ’ne Mail von Deiner Wegwerfadresse an meine Wegwerfadresse: wegwerfdreck ät webpunktde… ;-)
Ich will einen Abschluss als promovierter Soziopath!
Soziopathie wird im allgemeinen immer noch unterbewertet!
Ich rede mal mit der KolleginProfessX, die die Gender-Abteilung leitet – vielleicht kann Dir der Promotionsauschuß was anrechnen. Lange Schachtelsätze zählen z.B. doppelt, Parteimitgliedschaftszeiten achtfach!!!11eins!
Muss ich ja doch noch mal in eine eintreten. Och nö.
Bloß nicht irgendwo eintreten, die gelten doch rückwirkend! Da kommen schnell mal 2374 Semester zusammen, und zack! – schon feddich1!!1
Dr. soz.path.!
Ich möchte dann in dem Ausschuß sitzen; als habilitierter Soziopath steht mir das zu! (Natürlich nur über Zoom. Alles andere wäre igittpfuibä!)
Langsam anfangen, ich trau mich bald an einen Kuhfladen ran.