Wie ich heute früh – also zu meiner eigentlichen Freude noch später als üblich – und tatsächlich nur versehentlich erfuhr, ist eine weitere Staffel des überflüssigen Selbstdarstellerwettlaufs „Deutschland sucht den Superstar“, das der durchschnittliche Zuschauer gern als DSDS, was er sich gerade noch so merken und selbst betrunken (also im Idealzustand) noch halbwegs fehlerfrei grölen kann, abkürzt, jüngst vorüber gegangen, überschattet von der Omnipräsenz der zwar musikalisch hochwertigeren, aber auch nicht zweckerfüllteren Suche nach „unserem“ „Star“ für Oslo, von dem ich ohnehin annehme, sie werden ihn nicht behalten wollen und postwendend zurückschicken, auf dass wir mit weiteren hochklassigen Pophymnen der Marke „Satellite“ erfreut werden mögen. (Inwiefern ein durchschnittliches Stück Allerweltspop mit anglophonem Text Deutschland, abgesehen von dem schrecklichen Akzent der Interpretin, zu repräsentieren imstande ist, möge jemand Geeigneteres erforschen.)
Nun wird im Internet eine Aktion propagiert, die wahlweise Blümchens „Boomerang“ von 1996 oder Led Zeppelins „Stairway to Heaven“ von immerhin 1971 anstelle RTLs unsäglichen „Gewinners“ auf Platz 1 der Hitparade zu platzieren zum Ziel hat. Ich mag Blümchen nicht, auch wenn ich in jungen Jahren auch so mancherlei Tonträger (wenngleich nicht von ihr) erwarb, der mich heute nurmehr gehässig angrinst; gerade junge Leute sind oft eher der einfachen musikalischen Struktur und möglichst bunten Videos zugeneigt als wahrer Kultur, schade ist das schon. Blümchen jedenfalls ist ja auch nicht unbedingt dafür bekannt, ihre Beliebtheit bei jungen Konsumenten und die damit verbundene Zahl der Tonträgerverkäufe mit bspw. hochwertiger Musik verdient zu haben, so dass diese Wahl doch eher kontraproduktiv erscheint.
Dennoch kann ich auch keineswegs den alternativen Kauf des Led-Zeppelin-Stückes empfehlen. So angenehm es auch wäre, in der Hitparade endlich wieder einmal etwas von talentierten Rockmusikern statt nur von den immergleichen Popmarionetten zu sehen, so falsch ist doch der Sinn der Aktion.
In der Hitparade zählt nicht, was gut ist, sondern allein, was neu ist. Kaum jemand würde bestreiten, dass zum Beispiel „The Velvet Underground & Nico“ oder „Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band“ zu den essenziellen Musikalben des vorigen Jahrhunderts gehören, dennoch stehen die Chancen auf ihre Wiederkehr (im Falle von The Velvet Underground ist dies ohnehin der falsche Begriff) in der Albenhitparade eher gering. Die Hitparaden mögen ein Indiz für den Zeitgeist sein, eines für Qualität und Kultur sind sie jedoch keinesfalls. Es setzt sicherlich ein Zeichen, wenn der gerade aktuelle Schnulzendepp nur noch auf Platz 2 statt auf Platz 1 gewählt wird, aber es wird keinen der beabsichtigten Geschädigten wirklich beeindrucken. Die Produzenten dieses Schrottes haben ebenso wie die Verantwortlichen von RTL (die das mit der „Verantwortung“ regelmäßig missverstehen) ihr Geld längst bekommen, bevor das Produkt in den Läden steht, und voraussichtlich in der Folgewoche steht ohnehin wieder ein neuer erster Platz fest, und alles ist vergessen und war, gemessen an der Nachhaltigkeit, letztlich vergebens. (Apropos Produkt, „Kultur als Ware“ ist auch schon wieder eine erschreckende Erscheinung eigentlich, aber von „Kultur“ mag ich dann hier doch lieber nicht reden.)
Ein wahrer Musikfreund weiß: Will ich wissen, was gute Musik ist, sehe ich in die Hitparaden und kaufe, was nicht darin ist. Und so werde ich meinerseits es auch halten:
Am 12. Mai d.J. erscheint zum Beispiel das kommende Album der von mir sehr geschätzten Augsburger Postrockband Dear John Letter. Es wird in keiner Hitparade dieses Planeten Platz finden, es wird nicht von den Massenmedien, vermutlich mit Ausnahme der auch sonst sehr lobenswerten Zeitschrift VISIONS, für eine lebensnotwendige Anschaffung gehalten, die Mitglieder der Gruppe werden auch nicht Tag und Nacht von Journalisten und BILD-Schreiberlingen belagert, dennoch weiß ich: Es wird ein großartiges Album sein.
Nur, um etwaigen Missverständnissen vorzubeugen: Ich halte es für gut und richtig, wenn die Menschen um die musikalische Entwicklung und den Einfluss der Prekariatsmedien besorgt sind und in den Hitparaden lieber Qualitätsmusik als teuer bezahlte Kurzzeitunterhaltung sehen möchten. Dann bitte ich aber um Konsequenz. Ich möchte nicht nur für etwas weniger als 1/52 des Jahres einen einzigen Hitparadenplatz von womöglich Blümchen besetzt sehen, ich möchte, dass die Hitparaden als solche nicht mehr als Anzeigetafel für den höchsten Werbeetat dienen. Hat man sich zumindest darauf geeinigt, bin ich selbst gern bereit, an derlei Aktionen teilzunehmen.
Bis dahin jedenfalls wird mein Tonträgerregal auch weiterhin ausschließlich von Qualität und Jugendsünden bewohnt. Es scheint dort recht gemütlich zu sein.
(Apropos „Idioten“: 120 Kilometer lange Menschenkette gegen Atomkraft, was allein die Anreise wohl an Atomstrom gekostet haben mag?)
Ü Ü Überraschung http://goo.gl/a9h3
Fortan werde ich also nicht nur TinyURL‑, sondern auch goo.gl-Links meiden müssen.