Neuland ist nicht nur ein Hamburger Stadtteil, sondern erlangte auch als geflügeltes Wort, selbst in englischsprachigen Medien zum Mem avanciert, traurige Berühmtheit, als die amtierende Bundeskanzlerin Angela Merkel im Jahr 2013 auf einer Pressekonferenz bekanntgab, das Internet sei für uns alle eben dies, nämlich Neuland. Es dauerte lediglich vier Jahre, bis die quirlige Piratenpartei, für die das Internet in ihrer Gründungszeit Motor und nicht Wüste war, sich von diesem Schock erholt hatte und eine Antwort auf diese Anmaßung fand. Seitdem beeilt sich die Partei, der die Netzpolitiker mittlerweile weitgehend abhanden gekommen sind, die verpasste Außendarstellung nachzuholen (es ist Wahljahr, da darf man auch mal politisch wirken), und erzielt damit ungefähr den Erfolg, der abzusehen war.
Die Antwort nämlich bestand vor allem darin, in die bisherige Farbkombination aus Weiß, Schwarz und Orange verwaschenes Violett zu integrieren und ein neues Parteimotto zu etablieren: „Freu dich aufs Neuland“. Dass man sich auf das Internet freuen könne und solle, ist zwar keine wahnsinnig neue Idee und mir in eigentlich genau dieser Form bereits in den 1990ern begegnet, aber eines der Hauptanliegen der Piratenpartei ist nun einmal nicht unbedingt das Neue, sondern bessere Bildung für jeden, insofern ist es nur konsequent, da mit gutem Beispiel voranzugehen. Es vervollständigt den neuen Parteiauftritt ein neues Wappentier, nämlich ein Bundesadler, von dem Parteivertreter behaupten, er sei mit dem allgemein verständlichen WLAN-Symbol vereint, der für meine gestalterisch unerfahrenen Augen jedoch verdächtig nach „unter Drogen gesetzt und dann erschossen“ aussieht:
Aber was weiß ich schon über Vermarktung?
Im Wahljahr 2017 ist es mit einer überarbeiteten Parteiwebsite, wie selbst die Piratenpartei weiß, aber nicht getan, denn die wird nur von denen besucht, die sich sowieso schon für die Piratenpartei interessieren, und das sind nach vollendetem Eindruck der Piratenfraktionen in diversen Landtagen nicht mehr so viele Leute, dass man es dabei hätte belassen können. Nein – ein Wahlwerbefilmchen musste her.
Dieses hier:
Das Positive zuerst: Der Titel des Videos nennt die Piratenpartei ein „Digital-Kollektiv“, kein „Cyber-Kollektiv“.
Kommen wir nun zum Negativen und bleiben wir hierfür zunächst bei der Videobeschreibung:
Die Piratenpartei ist gesund geschrumpft und erwachsen geworden.
Wenn einem Vogelzüchterverein nahezu sämtliche Mitglieder mit Ahnung von Vögeln davonlaufen und nur noch diejenigen bleiben, deren Schwerpunkt eher Kaninchen sind, die in Kaninchenzüchtervereinen aber keiner haben will, dann kann man das selbstverständlich „gesundschrumpfen“ und keinen ideellen Totalschaden nennen. Taktisch unklug ist das allerdings trotzdem, denn so besteht die Gefahr, dass jemand diesen Satz auch mal hinterfragt, zum Beispiel ich. Aber ich bin auch nur eine Einzelmeinung und kein Kollektiv. Das Wesen eines Kollektivs, wie Star-Trek-Kennern bekannt sein könnte, ist das Fehlen von Einzelmeinungen. Was das über die Piratenpartei aussagen soll, weiß ich aber nicht.
Heute kämpfen über 11.000 Digital-Experten täglich darum Deutschlands Bürgern zu helfen, als Finanzexperten, Datenschützer, Internetarchitekten, Programmierer, Anwälte, Ärzte, uvm. (…)
Selbst unter der unwahrscheinlichen Prämisse, dass die Mitglieder der Piratenpartei allesamt „Digital-Experten“ sind und sich nicht zufällig stattdessen privat und politisch mit völlig anderen Dingen beschäftigen: Wenn ich einen Anwalt brauche, dann frage ich zuerst einen Jura- und keinen Digital-Experten; von Ärzten („Medizin-Experten“) einmal ganz zu schweigen: „Was fehlt mir, Herr Doktor?“ – „Moment, ich schaue kurz auf Facebook nach.“
Wir wollen Deutschland sicherer, einfacher, bunter, digitaler, sozialer und liberaler machen. (…) Wähle am 24.9. mit Zweitstimme Piraten – und – freu dich aufs Neuland.
Genau: Deutschland digitaler machen! Und liberalerer! Denn wie jeder weiß, kann man „liberal“, semantisch betrachtet, genau so steigern wie „digital“, nämlich exakt gar nicht. – Das mit der Bildung. Verstehe schon. Den Digitalismus in seinem Lauf hält weder Wahrig noch Duden auf.
Nun ist es Zeit, das Video selbst zu sehen. Ich empfehle das keinesfalls nüchtern zu tun.
Es beginnt mit einer Fahrt in Richtung des Brandenburger Tores, in trüben Grautönen abgebildet. Eine Stimme spricht zu laut:
Hallo, Zukunft…
Das, wir erinnern uns, war vor über zehn Jahren der Werbespruch der Deutschen Telekom, bis heute ein Garant für die Entschleunigung des digitalen Miteinanders. Was möchte die Piratenpartei damit sagen: dass die Zukunft längst begonnen hat? Das ist einerseits auf irgendeine physikalische Art fachlich richtig, aber was hat nun das Brandenburger Tor damit zu tun, das immerhin ein Symbol preußischer Macht und nicht etwa des Digitalen ist?
Ach, der Satz geht noch weiter:
…, goodbye, Steinzeit!
Zu weiterhin grautönigen Abbildungen eines alten Panzers und des Berliner Fernsehturms wird flugs die Sprache gewechselt, denn der moderne Homo Neulandensis ist zu digital, um dauerhaft nur Deutsch zu sprechen. Der Farbton ergibt endlich einen Sinn: Grau ist, was von gestern ist. Hoffentlich fällt Fernsehzuschauern, die diesen Film sehen, nicht so schnell auf, dass sie gerade als Relikt vergangener Zeiten beschimpft wurden.
Es wechselt im Kameraflug der Erzähler. Verschiedene Personen verschiedener Tonqualität sprechen im Wechsel:
Bessere Bildung, schöneres Leben, menschlichere Wirtschaft wären in unserer vernetzten Welt möglich. Stattdessen erleben wir Fake-News, Existenzangst, Bildungsnotstand und mehr Ungleichheiten.
Offen bleibt, ob das nicht selbst „Fake-News“ sind und ob das überhaupt ein Gegensatz („stattdessen“) sein muss, als könnte es nicht gleichzeitig wahr sein. Die noch immer graustufige Kamera schwenkte inzwischen auf einen pferdebeschwanzten, augenscheinlich jungen Herrn, der wohl einen typischen „Nerd“ darstellen soll, woran sein Klischeeshirt einen angemessenen Teil beiträgt, und auf seinem MacBook, von dem anzunehmen ist, dass es hier als Symbol für ein „schöneres Leben“ dienen soll, ratlosen Gesichts eine offenbar selbst erstellte Lorenzkurve zur Einkommensverteilung in Deutschland anguckt. Beschriftet ist deren x‑Achse als „kummulativer (sic!) Anteil der Gesellschaft von arm nach reich“ und man bekommt spontan Lust, diesem jungen Herrn eine anständige Ausbildung zu finanzieren.
Bei besagtem Herrn handelt es sich um René Pickhardt, einen der drei „Spitzenkandidaten“ der Piratenpartei zur kommenden Bundestagswahl, zu dessen Themenschwerpunkten laut Parteiwebsite unter anderem Bildungspolitik zähle und der „Internetexperte für hunderte (sic!) von Schülerinnen und Studenten“ sei. Das wäre lustiger, wenn dieses Video nicht so ernst gemeint wäre.
Weiter im Text:
Darum arbeiten und kämpfen wir für Vorsorge, Gesellschaft, Digitales, High-Tech, Menschen, Kreatives, Umwelt, Energie und Sicherheit.
Das ist ja geradezu unglaublich, schier undenkbar: Digitales und High-Tech? Menschen und Gesellschaft? Was Spannendes, was zum Spielen und Schokolade? Erstmals fällt im Hintergrund die einschläfernde „Ambient“-Musik auf, die ich eher aus anderen Filmgenres, die etwas mit Asiatinnen zu tun haben, zu kennen meine. Es könnte freilich schlimmer sein, es könnte stattdessen ein Seemannslied oder etwas von Phil Collins zu hören sein.
Derselbe Piratenkandidat ist inzwischen dabei zu sehen, wie er seine fehlende Bildung hinsichtlich regelkonformer Rechtschreibung auf ein wirr zusammengesetztes Tafelbild überträgt:
Ebenso wirr sind auch die Textsprünge der ständig wechselnden Erzähler. Als der Tafelbeschrifter mit seiner Aufgabe fertig scheint, wird er wieder in Nahaufnahme beim Nachdenklichgucken gefilmt, mitunter unterbrochen von Bildern der zweiten „Spitzenkandidatin“ Anja Hirschel, wozu ein weiterhin nicht sichtbarer Sprecher bekanntgibt:
Wir sind Analysten und Architekten, Daten- und Tierschützer aus Neuland.
Daten- und Tierschützer. Aus. Neuland.
Wir fordern Tunnel unter der Datenautobahn, damit die Bitcoinkröten nicht immer überfahren werden. Schluss mit den Daten- und Tierversuchen! Ich bin plötzlich sehr müde.
Die unbeirrt sich wieder hörbar machende Sprecherin nimmt darauf aber keine Rücksicht und verkündet computerverzerrt im Wechsel mit einem diesmal wenigstens nicht rauschenden Sprecher:
Wir sind über 11.000 Digitalexperten, vernetzt wie ein Digitalkollektiv. Wir sind – die Piraten.
Widerstand ist zwecklos und mein Bier ist auch schon leer.
Stell dir ein neues Parlament vor – mit Digital-Know-How auf Weltniveau!
Und die Sprecherin so:
Oooh!
Und ich so:
Woraufhin das Video wieder so:
Wir vernetzen und verbessern Deutschland, sicherer und schneller als alle anderen Parteien.
Was natürlich daran liegen könnte, dass das Netz von wirtschaftlich orientierten Unternehmen wie der Telekom und nicht von Abgeordnetensessel vollschwitzenden Politikern mit Mailausdruckvorzimmer aufgebaut wird und sich das wohl auch nicht ändern wird, wenn die Piratenpartei, die nicht einmal auf ihren eigenen Parteitagen ein sturzfrei funktionierendes „Netz“ aufgespannt bekommt, irgendwann in irgendeinem relevanten Parlament sitzt und wirtschaftlich orientierten Unternehmen wie der Telekom einen bösen Brief (Quatsch: E‑Mail!) schreibt, denn eine Pflicht zum unwirtschaftlichen Handeln wäre politisch kaum sinnvoll durchsetzbar.
Für eine bunte, soziale, digitale und liberale Zukunft: Wähle am 24.9. mit Zweitstimme Piraten!
Jetzt, endlich, gibt es erstmals Farbe im Bild, denn eine Schlüsselszene untermalt diesen doch eher langweiligen Satz: Der Klischeenerd mit dem Rechtschreibproblem steht anscheinend auf einem Häuserdach und betrachtet die niedrig stehende Sonne. Zu ihm gesellt sich ein im Video bislang unscheinbar gebliebener Anzugträger, der sich gerade eben noch eine Zeitung gekauft hatte und, was man im Video natürlich nicht mitgeteilt bekommt, der Dritte im Bunde der „Spitzenkandidaten“ ist, nämlich „Zahlen- und Zukunfts-Experte“ Sebastian Alscher, der sich zwar „gegen sinnlose Geldverschwendung“ positioniert, aber trotzdem mitgemacht hat. Kollektiv, wissenschon. Die anscheinend miserabel kodierte (aber Audiotechnik ist eben nicht immer digital) Ambientmusik dröhnt dazu anstrengend, als wollte sie davor warnen, dass es noch schlimmer kommen könnte.
Noch mehr Text? Noch mehr Text!
In Neuland findest du leichter zu deinem Happy End.
Erwähnte ich schon die Filme mit den Asiatinnen? – Von der anderen Seite trottet zu diesen Worten jedenfalls abermals Anja Hirschel ins Bild, zu dritt gucken sie in die Sonne, was bekanntlich immer eine schrecklich gute Idee ist. Diese Szene gefällt mir kompositorisch zwar durchaus gut, allerdings würde ich sie nach verlorener Bundestagswahl wahrscheinlich doch eher an ElitePartner o.vglb. verkaufen wollen, um wenigstens die Kosten wieder reinzuholen.
Es scheint endlich überstanden: Das Bild verschwimmt, das Parteilogo wird eingeblendet. Noch zehn Sekunden, jetzt bloß nichts Lächerliches mehr, ihr schafft das… möööööp!
Fünf verschiedene Stimmen, davon eine immerhin roboterartige, befehlen dem Zuschauer, der längst nur noch ein Schatten seiner selbst ist, in abgehackter Weise:
Piraten. Freu – dich – aufs – Neuland!
Mit einem letzten Ambientklang (Happy End, ihr erinnert euch?) endet dieses Video, das ich fortan als die längsten anderthalb Minuten meines Lebens bezeichnen werde. Zurück bleiben Erleichterung, dass es überstanden ist, und eine seelische Leere, von der ich bisher angenommen hatte, außerhalb von Casting-Sendungen sei diese schon biologisch nahezu ausgeschlossen.
Kann man seine neuländische Staatsbürgerschaft eigentlich zurückgeben?
Nachbemerkung: Ich wurde gebeten, einen ähnlich kritischen Text auch über die Wahlwerbevideos politischer Wettbewerber zu verfassen. Davon nehme ich jedoch bis auf Weiteres erstens Abstand, weil selbige Videos mir zwischendurch auch mal eine Möglichkeit einräumen, die Hand wieder aus dem Gesicht zu nehmen, und zweitens, weil ich bei jenen Wettbewerbern nicht ähnlich betroffen bin, da – Bescheuertsein hin oder her – mir die Piratenpartei noch immer eine politische Heimat bietet, wenn auch in zusehends trockeneren Gewässern.
Applaus für diesen Beitrag (ok war wohl eher traurig für den Autor, aber perfekt geschrieben).
Danke, glaube ich. Bin mir aber nicht ganz sicher.
Guter Text Tux, bis auf das hier: „einen pferdebeschwanzten, augenscheinlich jungen Herrn“ – hab laut gelacht. Müßte es nicht „mit Pferdeschwanzfrisur“ heißen?
Hoppla, wie dumm von mir!
li·be·ral, Komparativ: li·be·ra·ler, Superlativ: am li·be·rals·ten
Diese Steigerung ist wahrscheinlich im Duden des Kommentators noch nicht vorhanden, – deshalb kann nicht sein was nicht sein darf.
Und Musik sowie Stimme zu Beginn ist zu laut.
Genau dies stört mich im Kino bei guten Filmen auch immer.
Besonders, wenn sie mich dann auch noch aufweckt – Boah eye – geht gar nicht.
Aber PIRATEN wären nicht Piraten, wenn sie nicht aus eigenen Reihen beschossen würden.
Und Gedanken, ob dieser Spot wirklich schlecht wäre, würde ich mir erst dann machen, wenn wer er nicht aus eigenen Reihen und den Ex-Piraten kritisiert würde.
Deshalb – Danke für diese Kritik, die nun endlich die Ex-Piraten und Berufsnörgler favorisieren können.
Denn genau dies zeigt – der Spot ist wirklich gut geworden.
Entweder etwas ist liberal oder es ist es nicht. Mir ging es um Semantik, daher der Verweis aufs Digitale und nicht auf den Duden.
Apropos: nein, der Film wird auch nach meinem Austritt noch schlimm anzusehen sein.
LOL! ROFL! OMG Gefällt mir. +1 Du hast vollkommen Recht!
Das war mal ein wirklich guter Text.
Ein wirklich guter Text, hat mir sehr gut gefallen. Das „Digitalkollektiv“ schien mir in den letzten 5 Jahren oft mit simplen Mailinglisten schon überfordert, bin sehr gespannt, wie damit das Internet und die Politik revolutioniert werden sollen. Der Film mäandert von der Optik und der Machart zwischen Baumarktwerbung und Heimatfilm. Da fehlt mir die Moderne.