Im September 2017 verübte die Piratenpartei Deutschland einen albernen Imagefilm, der sie zu alter Beliebtheit zurückführen sollte. Bekanntlich hat das nicht besonders gut funktioniert, die Piratenpartei blieb bis 2018 erst weitgehend unsichtbar und landete dann quasi gleichzeitig einen unerwarteten Erfolg und einen erwartbaren Misserfolg, indem sie gegen die EU-Politik von CDU, CSU, SPD und Grünen protestierte und Querelen mit ihrer Kandidatenliste angetragen bekam.
Aus den drei Darstellern des Videos ist trotzdem etwas geworden: Sebastian Alscher ist inzwischen Bundesvorsitzender der Partei, Anja Hirschel ist zum bekannten Plakatmotiv avanciert und René Pickhardt ist René Pickhardt. Leider steht aber schon wieder eine Wahl an, weshalb ein wenig Öffentlichkeitsarbeit geraten schien. Um die zahlreichen Fehler vom letzten Mal – vom erschossenen Drogenvogel bis hin zur Massage-mit-Happy-End-Musik – nicht zu wiederholen, hat man vieles anders gemacht.
Den Wahlkampf dominieren neben dem piratenüblichen Quietschorange die europäischen Farben Blau und Gelb, was leider über die politische Nähe zur längst nahezu telekomfarbenen F.D.P., denen man ihre alten Farben jetzt kampflos abnehmen konnte, überhaupt nichts aussagt. Auch das Wort „Neuland“ ist endlich aus dem Piratenauftritt verschwunden, stattdessen tanzen jetzt sieben Clipartfiguren vor etwas, was vielleicht ein Brandsatz, vielleicht aber auch etwas ganz anderes ist, während neben ihnen das neue Parteimotto in Majuskeln den Leser anbrüllt:
Wahrscheinlich hat das Motto irgendwas zu bedeuten, vielleicht ist sogar – mit viel Fantasie – eine inhaltliche Verbindung zum Parteiprofil („Netzpartei“) herzustellen. Es ist undenkbar, dass sich irgendwer die Mühe gemacht und sich einen Wahlspruch ausgedacht hat, der dann überhaupt nichts mit der zu transportierenden Politik zu tun hat. Das wäre ja nur noch vergleichbar mit einem Musikalbum, für das ein Künstler, der gar nicht weiß, wer die Musiker sind, ein Coverbild zeichnet, das eine schiefe Übersetzung des Bandnamens ist!
Andernfalls wäre ja auch die Vermutung absurd, dass Freiheit, Würde und Teilhabe bei der hier relevanten Wahl, nämlich der Europawahl im Mai, politisch eine nur untergeordnete Rolle spielen könnten. Ja, Freiheit und Teilhabe sind angesichts einer den Bürokratiesack immer fester ziehenden Europäischen Union sicherlich aus dem EU-Parlament heraus zu verbessern; aber Würde? Wenigstens teilweise vernünftige Beispiele für aus Brüssel oder Straßburg politisch durchsetzbare Würde wären ein gesichertes Auskommen im Alter oder Sterbehilfe, nur sind beide Beispiele bereits in Bundes- und nicht etwa in europäischen Gesetzen geregelt. Mir ist nicht klar, was das zu bedeuten hat. Ja, als bloße Forderung macht sich das gut auf Plakaten, aber hätte man dann nicht lieber Reichtum als Würde draufschreiben sollen? Reichtum würde ich wahrscheinlich sogar wählen.
Wie dem auch sei; selbstverständlich ist der Piratenpartei die Macht der bewegten Bilder ebenso bewusst wie die Macht der Worte, weshalb sie sich selbst nach langem Überlegen einem gewagten Experiment unterzog: Es existiert ein neuer Wahlwerbefilm und er ist furchtbar.
Wohl dem, der in weiser Voraussicht vor dem Abspielen die Tonausgabe abschaltete. Den Rest bitte ich um Verzeihung. Ich sagte, ich bitte den Rest um Verzeihung. UM VERZEIHUNG!
Nicht alles ist schlecht, man könnte den Erstellern des Videos etwa dreierlei zugutehalten:
- Das Video ist grafisch einigermaßen modern aufbereitet.
- Man verzichtete diesmal auf nicht aufeinander abgestimmte Sprecher, eine unerklärliche Handlung und peinliche Tafelbilder.
- Es ist angenehm kurz.
Den Konjunktiv habe ich bewusst gewählt: Der oben gezeigte Kurzfilm ist nicht mehr als eine auf den augenscheinlich gleichen After-Effects-Vorlagen basierende Adaption eines bereits 2018 veröffentlichten Werbevideos der brasilianischen Piratenpartei – und er ist eine halbe Minute länger, was auch eine halbe Minute mehr von dieser auf mindestens eine Weise bemerkenswerten Beschallung mit sich bringt. Das haben die Beschallten jetzt von dem Recht auf Remix. Der deutsche Film behauptet eingangs, unter der Creative-Commons-Lizenz BY-SA 3.0 zu stehen, verzichtet aber darauf, die dort enthaltene Verpflichtung zur Namensnennung und Kennzeichnung der Änderungen einzuhalten. Ich erwäge dieses Video auf Wiedervorlage zu legen, falls ich mal wieder gefragt werde, warum ich den meisten „freien“ Lizenzen eher ablehnend gegenüberstehe.
Kommen wir zum Wesentlichen, also zum Inhalt: Das plagiierte Video wurde „unentgeltlich produziert weil Leidenschaft provoziert“, informiert das Einstiegsbild im Kleingedruckten. Kommas sind so 2017. Es kündigt ein „Update für Europa“ an, was, berücksichtigt man das Pochen der Partei auf mehr verfügbare Bildung für alle Menschen, nicht gut überlegt wirkt, denn größer werdenden Teilen Europas ist das Ergebnis der kommenden Wahl weitgehend egal, denn das EU-Parlament hat allenfalls indirekte Macht über die politische Freiheit von ausreichend vielen europäischen Ländern. In eine Europalette kann man trotz des Namens ja auch nicht reisen, sofern man nicht sehr klein ist.
Eine eigenartige Animation schlägt vor, man solle am 26. Mai bei der Wahl zwischen F.D.P., CDU, AfD, Linken, Grünen, SPD und Piraten letztere Partei wählen. Keine Auskunft wird darüber erteilt, wie etwa in Bayern gehandelt werden soll, wo statt der CDU die CSU zur Wahl steht, auch über Tierschutzpartei und Graue Panther – beide zur Wahl zugelassen – verliert die Animation kein Wort. Das erschwert die Wahlentscheidung jetzt sichtlich. Ich gehe vorsorglich davon aus, dass auch dann zur Wahl der Piratenpartei aufgerufen würde. Warum man das tun sollte, soll der Film sicherlich aufzuklären helfen. Ich bin schon sehr gespannt.
Das erste Argument ist sogar ein gutes: Unter einem Foto von Demonstranten, die sich Edward Snowdens, Bradley Mannings und ausgerechnet Barack Obamas Gesichter in Form schwarz-weißer Masken vor die ihren halten, ist die Forderung nach „Privatsphäre statt [einem] Überwachungsstaat“ zu lesen: „Meine Daten gehören mir!“ Dagegen ist nichts einzuwenden, das finde ich gut und ich wiederhole meinen anderswo geäußerten Standpunkt, dass, wer nicht die Piratenpartei wähle, an der misslungenen Netzpolitik eine Mitschuld trage, gern auch hier. Das entschuldigt nicht alles, aber ist wenigstens eine akzeptable Ausrede. In die gleiche Kerbe schlägt die nächste Forderung nach einem freien Internet „OHNE FILTER OHNE ZENSUR“. Satzzeichen? Ach, nö.
Das nächste Foto macht diesen fast guten Eindruck in nur einem Augenblick zunichte: Es zeigt mutmaßlich eine der „Fridays-for-Future“-Demonstrationen, der Text dazu lautet:
KLIMA GERECHTIGKEIT (sic! A.d.V.) FÜR ALLE GENERATIONEN #FRIDAYSFORFUTURE
Mir war, als hätte die Piratenpartei mal große Stücke darauf gehalten, nicht die Grünen zu sein, obwohl sie inzwischen gelegentlich darauf hinweisen lässt, dass ihr Abstimmverhalten die Grünen noch grüner überhole. Da aber diese Demonstrationen jedenfalls in Deutschland vorrangig von einer Vielfliegerin mit grünem Parteibuch koordiniert werden, ist Werbung für sie auch Werbung für die Grünen (und für das Vielfliegen). Ich bin nicht der Ansicht, dass der wohlwollende Hinweis darauf, was andere Parteien auf die Beine zu stellen imstande sind, unbedingt eine gute Werbung für die Piratenpartei ist, aber wir befinden uns bei gerade mal 30 von 90 Sekunden und ich war vorher schon abgeschreckt, weil ich blöderweise Kopfhörer trug. Aua! Es schwirren Buchstaben durch den linken Teil des Bildes: R, A, J, Z, W, W, N, Z, R. Wer daraus ein Wort bilden kann, der stammt offenbar nicht von hier.
Weiter geht es mit einem natürlich ohne Quellen- und Lizenzangabe eingebundenen Foto vom für seinen Einsatz für Bürgerrechte bekannten Spitzenkandidaten Dr. Patrick Breyer, den man selten ohne seinen Titel antrifft. Der Begleittext empfiehlt „Politik für Bürger statt für Konzerne“, verzichtet aber, vielleicht aus taktischen Gründen, darauf, darauf hinzuweisen, dass Konzerne gelegentlich von Bürgern aufgebaut und geführt werden. Ob Bürger an der Spitze eines Konzerns jetzt keine Politik mehr bekommen sollen, weiß ich nicht. Erfreulich ist’s, dass es mir in diesem Film keine Stimme erklären möchte. Auch die Folgeüberschrift „Kompetenz & Transparenz statt Hinterzimmerpolitik“, bebildert mit einem Foto aus – anscheinend – einem europäischen Plenum, ist zunächst einmal nicht zu beanstanden. Die herumfliegenden Buchstaben sind immer noch da, bilden aber immer noch kein Wort. Sie dienen anscheinend der Ablenkung vom Inhalt, ich werde also im Weiteren so tun, als wären sie gar nicht da. Manchmal bin ich schon ein Fuchs.
Interessanter wird es danach: Neben einem lizenzangabefreien Foto von Stoffeichhörnchen vor und zwischen Stimmkarten der Piratenpartei ist nicht etwa etwas zu direkter Demokratie zu lesen, sondern ausgerechnet heiße Luft.
HERZ STATT HETZE WÜRDE UND TEILHABE ONLINE & OFFLINE
Zum Thema „Würde“ habe ich mich oben, wie ich annehme, ausreichend geäußert, die verquere und nicht mal konsequente Zeichensetzung zu kommentieren wäre auch nicht mehr als eine bloße Wiederholung. Noch fehlt mir aber der mentale Anschlusspunkt zwischen Bild und Text einer- und zwischen Text und anderem Text andererseits: Was haben Eichhörnchen mit Würde zu tun, was haben Stimmkarten mit Herz zu tun? Besteht zwischen „Herz“ und „Hetze“ ein Widerspruch? Kann jemand nicht mit ganzem Herzen feindselige Gefühle in sich tragen? Sind Würde und Teilhabe eine Konsequenz aus einem nur feindseligkeitsfreien Herzen? Was ist Onlinewürde und wie unterscheidet sie sich von Offlinewürde? Warum habe ich diesen Film eigentlich nüchtern angesehen und warum ist er immer noch nicht vorbei?
Die Erlösung naht in Form eines riesigen kaufmännischen Unds:
&
Es beginnt das Fazit: Man, die europäischen Piratenparteien (was da nicht steht), sei „13 Parteien“ und habe „1 Programm für Europa“, was natürlich „EU“ heißen sollte, aber wen interessieren schon solche Details? Es geht schließlich um Wahlen und nicht um Politik. Auf einem nicht gekennzeichneten Foto halten Patrick Breyer und seine tschechische Spitzenkandidaturkollegin – die tschechische Piratenpartei wird nach aktuellen Umfragewerten vier ihrer Mitglieder ins Parlament setzen können – den mehrsprachigen Hinweis in die Kamera, Europa brauche mehr Piraten, was im gegebenen Kontext zum Beispiel Zuschauern in der Schweiz auch im Mai völlig egal sein wird, weil die Schweiz ohnehin keine Abgeordneten ins EU-Parlament setzen kann. Europa und die EU sind nicht dasselbe Ding, eines ist ein Kontinent, eines ist ein Staatenbund aus Teilen dieses Kontinents und vielleicht irgendwann auch Teilen Asiens. Ich war mir nicht sicher, ob ich das schon erwähnt hatte.
DEINE STIMME
… ja?
ZÄHLT
Ach so!
Zur „#EU19“ – endlich mal ein hashtag, auf den man nicht draufklicken kann – solle man also, um das noch mal zusammenzufassen, den abermals nicht lizenzerwähnten, aber zu sehenden Dr. Patrick Breyer wählen: „26. MAI PIRATEN“, jawohl, Herr Kaleun! Denn Freiheit, Würde (sie lassen’s nicht), Teilhabe und Piraten seien sei wählbar:
Kennt ihr dieses Gefühl, wenn ihr eine Arbeit fast abgeschlossen habt, dann die Lust verliert und euch denkt: „Scheiß drauf, das lasse ich jetzt so“? Genau so wirkt dieser Werbefilm: Wie etwas, was jetzt so gelassen wurde. Immerhin: Man sei „ohne 5%-Hürde“ wählbar. Das wäre man zwar auch mit ihr, aber dann mit weniger Abgeordneten.
Eigentlich wollte ich hier noch eine gelungene Pointe einbringen. Aber ich lasse das jetzt so.
Nachtrag vom 23. Mai 2019: Na also – geht doch!
Komm halt nächstes mal ins Mumble und biete deine Mitarbeit an, dann kannst du es besser machen.
Ich finde den Spot ganz gelungen, inhaltlich kann man immer über Details streiten aber insgesamt ist er doch fetzig geworden.
Wenn man schaut was andere Parteien so abliefern (nachfolgend die Spots die ich schon auf YouTube finden konnte), z.B. die SPD
https://www.youtube.com/watch?v=yUYaZmFJd3A
oder die V‑Partei³
https://www.youtube.com/watch?v=rfpJHCZJvkc
oder die Partei
https://www.youtube.com/watch?v=q8HvDaTVAjo
dann muss sich der Piraten-Spot auf keinen Fall verstecken.
Die im Mumble wollen meine konstruktive Mitarbeit nicht. Die wollen mich lieber beschimpfen. Mehr als anbieten konnte ich es nicht.
Der Klecks auf dem finalen Bild erinnert sehr an Nickelodeon. Wahlalter runter, neue Zielgruppe!
Die ham nur einen alten Wahlslogan der Partei schlecht kopiert: Friede, Freude, Eierkuchen
Ist schon bekannt wohin der Spitzenkandidat nach der Wahl überläuft?
https://www.fdp.nrw/sites/default/files/2018–11/Kandidatenvorstellung_VFBartscher.pdf
ich schmeiss mich weg!
„…will mehr Bürger an die Wahlurne bringen…!“
Gruseln auf aufhippen Bausparkassen-Niveau…
Das Schöne am Internet ist ja die Möglichkeit sich selbst direkt oder mit Hilfe der sozialen Medien zu demontieren.
In den 1970er Jahren waren so Parteien wie die „Oben-Ohne-Partei“ darauf angewiesen, dass mal ein Redakteur noch Material für die bunten Seiten benötigte um bekannt zu werden, heute Alles Do-it-youself.
Mal im Ernst:
Was der Generation „Heute“ anscheinend noch nicht ganz in den Kopf geht scheint die Tatsache zu sein, MACHT ist immer ANALOG.
Es gibt auf der ganzen Welt keine effektivere Möglichkeit eine Gruppe von Menschen zu führen als mit dem dicken Knüppel.
Der Knüppel variiert dabei selbstverständlich vom freundlichen „Na, solltest du nicht besser…“ bis hin zum digital unterstützen Drohnenschlag.
Es hat noch nie und wird auch niemals eine grundlegende Veränderung von Verhältnissen als durch Umsturz gegeben. Ansonsten ist die MACHT immer vor euch da.
Und Parteien, selbst wenn sie mit noch so tollen Absichten starten, sind immer Erfüllungsgehilfen der MACHT, ganz besonders in einer sogenannten repräsentativen Demokratie.
Aber genauso wie sich der aktuelle Feminismus mit *, Binnen‑I und Genderprofessuren kaufen ließ und daher eigentlich nur noch die „Vulva aus der Tabuzone holen will“, so wie sich die Umweltaktivisten bei H&M mit der demnächst eingeführten CO2 – Steuer zufrieden geben, so wird es den Netzaktivisten reichen wenn Strafzettel per App bezahlt werden können und 5G Apple endlich die Möglichkeit gibt, Biodaten in Echtzeit weiter zu verhökern.
Denn eines eint ja die Aktivisten aller Coleur, das System ist völlig in Ordnung, nur der eigene Platz ist verbesserungsbedürftig und wenn man dafür mal eine zeitlang lügen muss, „Ich tue das alles für Euch, die Umwelt, das freie Internet.…“, wem schadet es?
Dem eigenen Fortkommen niemals, 10.656 Bundestagsabgeordnete seit 1948 können nicht irren.
@Pater Busoni: Man darf den Knüppel der billigen Biere und der Verlegung der Aufmerksamkeit auf Nebenschauplätze nicht vergessen!
Der Mensch mag es gerne klein und übersichtlich,denkt aber noch lieber er wäre der einzige mit dem echten Ein- und Durch- und Überblick,oder!
Also ich denke das die Parteistrategen darauf setzen,
das nach der kommenden Apokalypse nur noch die Imagefilmchen übrigbleiben