Lange genug hat’s gedauert, jetzt halte ich es ehrfürchtig in meinen flugs desinfizierten Händen, lausche der in Ton gegossenen Kunst, getragen von Rhythmus, wabernden Melodien und der immer ein wenig bekifft wirkenden Stimme von Martin Fischer und bekomme wg. Trance nur wenig mehr als drei Wörter am Stück heraus, was das Schreiben nicht einfacher macht.
Es stand zu befürchten, dass der Plattenvertrag, den das Quintett nach der Veröffentlichung des Debüts Between Leaves | Forestal unterzeichnet hat, negative Konsequenzen für die folgenden Veröffentlichungen haben würde, zumal via YouTube eine ausdrücklich als „radio edit“, also „Radioversion“, betitelte Version des eröffnenden „You Remain Unshakeably Calm“ verbreitet wurde, wenngleich mir die Band nach Bekanntwerden des Vertragsabschlusses höchstselbst versicherte, dass sie sich weiterhin auf ihre ureigenen Qualitäten konzentrieren würde; aber man weiß es ja nie so genau. (Für die übermäßige und vermutlich nicht immer allzu präzise Verwendung des Wortes „würde“ bitte ich den zeitgleichen Konsum psychedelischen Lauschgifts verantwortlich zu machen.)
Zu meiner persönlichen Erbauung sollte sie Recht behalten:
Das Album „Part & Fragment“ meiner trotz Nihiling noch immer nicht vom Thron gestoßenen Lieblings-Postrocker Dear John Letter ist, bandtypisch und zur Musik passend für den Herbst des Jahres angekündigt, seit vergangenem Freitag zu bekommen und lag bis heute aus Zeitmangel noch in meinem Postfach herum.
Und es ist klasse.
Filigran wie gewohnt beginnt es mit dem artwork, das eine eigenständige Würdigung verdient. Auf bedruckter Pappe oder jedenfalls etwas, was sich anfühlt wie bedruckte Pappe, ist außen- und innenseitig die Fassade einer bayerischen Altstadt gemalt, und wer jemals in Augsburg war, der weiß, dass es jedenfalls nicht Augsburg ist. Dass die Szenerie indes in Bayern anzusiedeln ist, folgere ich daraus, dass eines der Schaufenster mit „Brezen“ beschriftet ist. Wie überhaupt recht viel zu entdecken ist, etwa zwei Personen, die einen Flügel an einem Seilzug eine Häuserfassade entlang bewegen, an deren unterem Ende eine weitere Person steht und interessiert nach oben blickt. Ich bescheinige dieser Szene Amusement-Qualität. Zu bemängeln ist allenfalls: Obwohl die jeweils dreiteilige Szene in Dreiecksform gefaltet werden kann, so schließen rechtes und linkes Ende doch nicht aneinander an, vermutlich ist es allerdings auch nicht so gedacht. In dem papiernen Streifen, der das Album umfasst, ist ein Gedicht zu lesen. Ob es sich um einen Textausschnitt handelt, bleibt mir verschlossen. Ihr wisst ja: Die Trance. (Nachtrag vom 6.11.: Es handelt sich tatsächlich um den Anfang von „You remain unshakeably calm“.)
In der hübschen Verpackung stecken ein Poster mit den üblichen Informationen, unter anderem den beteiligten Musikern, aber ohne Liedtexte, sowie natürlich der Tonträger selbst, bedruckt mit einem stilisierten Zodiak, der anstelle der Tierkreiszeichen jedoch Dreiecke, Vierecke und Sterne aufweist, und einer Liste der enthaltenen Stücke.
Aber jetzt habe ich viel zu lange über Äußerlichkeiten referiert, entscheidend ist bei einem Musikalbum doch meist, was auf ihm zu hören ist; also wende ich mich der Musik zu. Wie das, was zu hören ist, ungefähr klingt, demonstriert oben erwähnte Radioversion schon recht anschaulich. Und obwohl Dear John Letter sich unverkennbar wie Dear John Letter anhört, ist „Part & Fragment“ doch weit mehr als nur ein zweites „Between Leaves | Forestal“. Eine Abwendung vom Postrock wurde attestiert, und auch, wenn sich das Album nicht bloß in die Worte „klingt wie Postrock mit prima Gesang“ kleiden lässt, so ist doch keinesfalls eine Abkehr zu hören, sondern vielmehr eine Ergänzung. Zu den gewohnten Tönen (Mogwai, Oceansize, Amplifier, eine Prise Pink Floyd) stoßen neue Einflüsse, der dies für mich am beeindruckendsten demonstrierende Part ist das abschließende Gitarrensolo in „House of Leaves“, das mir auch endlich erklärt, wieso Peter Led-Zeppelin-Remineszenzen aus der Vergleichsschublade kramte, die andererseits trotz wunderbarer Momente wie etwa „Achilles‘ Last Stand“ nie so detailverliebt zu Werke gingen.
Das Ungeschliffene der Vorgängerwerke („Laika“, „Towers | Trees“) ist aus dem Repertoire der Gruppe zwar nicht gestrichen, aber doch deutlich zurückgefahren worden, und obwohl es gerade diese Lo-Fi-Attitüde war, die mich vor drei Jahren die EP2007 immer wieder hören ließ, wird sie auf „Part & Fragment“ in keinem Takt vermisst.
Nie zuvor war ein Dear-John-Letter-Werk so facettenreich, nie klang eines so ausgereift. Die zwei Jahre, die seit „Between Leaves | Forestal“ vergangen sind, haben die fünf Augsburger offenbar nicht damit verbracht, untätig herumzusitzen, und können nunmehr zum dritten Mal zeigen, dass sie jenseits von Etiketten über Genregrenzen hinweg die eigene Klangwelt am Leben erhalten können, ohne Kompromisse eingehen zu müssen, und allein der Umstand, dass sie in ihrer Kreativität und aufgrund der Eigenheit, sich ständig selbst neu (und besser) zu erfinden, unnachahmlich sind, wird auch auf lange Sicht effizient verhindern, dass Magazine wie etwa VISIONS ihren CD-Kritiken das Genre „dearjohnletteresk“ beifügen.
Sofern Dear John Letter jemals auf diesen Text stoßen, rufe ich ihnen zu: Chapeau!
Hey Tux, vielen Dank für die liebe Review, wir freuen uns sehr, daß Dir das Album gefällt. Allerdings ist die Stadt auf dem Cover doch Augsburg. Dabei wurden ausgewählte schöne Häuser nebeneinander gesetzt, die ansonsten keinerlei räumliche Nähe zueinander vorweisen können.
Liebe Grüße, Martin.
Oh, ach so. Dann ist es aber trotzdem nicht Augsburg. Eher „Best of Augsburg“.
Ich fühle mich ob deines Besuchs geehrt!
Wir sehen uns in Braunschweig.
Versäume nicht in Braunschweig mal vorstellig zu werden um ein Bierchen zu trinken. Gekifft wird bei mir übrigens nie!
Sofern sich eine Gelegenheit ergibt, sich mit euch mal zu unterhalten, werde ich sie natürlich nutzen – und Bier lasse ich mir ohnehin nicht entgehen.
Hm, schade eigentlich. – Andererseits habe ich ausdrücklich „bekifft wirkend“ geschrieben. (Was euch übrigens auch angenehm von den Strokes unterscheidet: Julian Casablancas singt müde-bekifft, nicht berauscht-bekifft.) War ja auch weniger Kritik – gefällt!