In ihrem umstrittenen Buch „Die Selbstgerechten“ verwendete Sahra Wagenknecht, als überzeugte Kommunistin offenkundig politische Gegnerin der Partei „Die Linke“, einen Satz, der nicht folgenlos blieb:
Die Identitätspolitik läuft darauf hinaus, das Augenmerk auf immer kleinere und immer skurrilere Minderheiten zu richten, die ihre Identität jeweils in irgendeiner Marotte finden, durch die sie sich von der Mehrheitsgesellschaft unterscheiden.
Sofort, sogar noch vor Erscheinen des Buches, bewiesen sich in den Medien Kommentatoren in der Disziplin, eine Feststellung zu belegen, indem man sich über sie empört, denn das Augenmerk wurde vielfach auf Vertreter skurriler Minderheiten gelegt, die dann auch brav zu verstehen gaben, dass sie als Minderheit es nicht gut finden, wenn eine Mehrheit sie überstimmt.
Es sei, lese ich – wenngleich in Fragen des Geschlechterzwists – oft, ein Zeichen von Stärke, auch Schwäche zeigen zu können. Damit ist beinahe nie die körperliche, fast immer hingegen die seelische Stärke gemeint, oft gepaart mit dem Ruf, man möge Inklusion und/oder Integration derer betreiben, die als schwächer identifiziert werden.
Nun ist Integration nach meinem Verständnis keine reine Bring‑, sondern zum Teil auch eine Holschuld. Um das Beispiel der Integration von Menschen aus anderen Kulturen zu wählen: Bei vielen reicht der Respekt für diejenigen, die sie integrieren sollen, nicht einmal dafür aus, ihre Sprache lernen zu wollen; man schießt sich auf den kleinsten gemeinsamen Nenner, meist gebrochenes Englisch, ein und freut sich, dass man, wenn man nur beidseitig genug eigene Kultur aufgibt, so schöne Fortschritte bei dieser „Integration“ in irgendwas („die Gesellschaft“ jenseits der Blase der Englischbrecher allerdings mag’s nicht sein) vorweisen kann. „Integration“ ist insofern ein Wort, dessen Nutzung in diesem Kontext sich eigentlich verbietet, denn man bringt mit ihr nicht den Schwachen in die Gesellschaft, sondern errichtet eine ganz eigene, parallel zur eigentlichen Gesellschaft bestehende Kleinwelt für diesen Schwachen. Ist ein potemkinsches Dorf wirklich der richtige Ort für eine Einbürgerung?
Etwas anders sieht die Sache bei der Inklusion aus, denn diese setzt zwar auch voraus, dass man selbst Barrieren senkt, erfordert aber – sofern sinnvoll und nicht bloß aktivistisch angewandt – auch einen Empfänger, der nach Abschluss der Inklusion im Rahmen des Möglichen am tatsächlichen Leben teilnimmt, ohne fortwährend bemuttert werden zu müssen, denn fortwährende Bemutterung ist das Gegenteil von Mündigkeit. Leider hat sich aber auch hier inzwischen, befeuert von vorgeblich politischen Akteuren, eine Verkehrung der Inklusionsrichtung eingestellt: Das Ziel ist es nicht mehr, auch Menschen mit Beeinträchtigungen das Leben zu erleichtern, sondern diese Beeinträchtigungen als nichtexistent zu definieren. Dabei kämpfen – wie so oft – die vermeintlich Weltoffenen erbittert gegen das Individuum.
Es ist etwa nicht allzu lange her, als Wolfgang Thierse, altgedienter Sozialdemokrat in der ausgedienten SPD, davor warnte, die Gruppenzugehörigkeit nach Geschlecht oder Ethnie höher zu bewerten als die Leistung des Einzelnen, wofür ihm Saskia Esken, bekannte Gegnerin des Leistungsprinzips, zusammen mit etlichen anderen Mitgliedern der Inklusionisten per Föjetong die Parteifreundschaft kündigte, was die Medien – als wäre gerade sonst nichts los – lange Zeit beschäftigte. Dass solches Bestreben unter anderem die mindestens interessante Konsequenz mit sich führte, dass in Hannover ein kritischer Vortrag über die Kolonialisierung der Schwarzen durch die Weißen abgesagt worden ist, weil Weiße fanden, ein Weißer habe kein Recht dazu, andere Weiße über die Nachteile des Kolonialismus zu belehren, ist mit „absurd“ noch unzureichend betitelt.
Aber von der Inklusion an sich führt diese Debatte inhaltlich etwas weg, weshalb es wichtig zu wissen ist, dass es dieselben Akteure („taz“, SPD und so weiter) sind, die einerseits alte weiße Männer als solche für eine Gruppe halten, die dringend weg müsse, gleichzeitig aber darauf beharren, dass jeder so leben können solle, wie er wolle. Ob ihnen bekannt ist, dass es Menschen gibt, die eigentlich ganz gern als weißer Mann leben wollen, wäre bestimmt auch mal interessant herauszufinden.
Bereits aus dem erwähnten Zwischenfall lässt sich aber ablesen, dass die Gesellschaft – immerhin: endlich – die freie Entfaltung der Persönlichkeit zu würdigen bereit ist, jedoch scheint die Bewertung dieser freien Entfaltung maßgeblich vom mengenmäßigen Anteil der Entfaltenden an der jeweiligen Subkultur (hu, schon wieder so ein Wort) abzuhängen: Je weniger, desto besser. (Keineswegs folgerichtig werden auf dem Chaos Communication Congress, auf dem LGBTQ-mit-Sonderzeichen-Identifizierende überrepräsentiert zu sein scheinen, alte weiße Männer trotzdem nicht als besonders schützenswerte Minderheit anerkannt.)
Wann und warum ist die Gesellschaft eigentlich auf den Kurs abgebogen, auf dem man gegen sexuelle und/oder geschlechtliche Unentschlossenheit ebenso wie für Depressionen nicht mehr therapiert, sondern zwecks ihrer Bestätigung gefördert wird? – Nein, ich korrigiere; die Frage ist schon falsch gestellt: Selbst die eindeutige Identifikation als Frau wird mittlerweile gesellschaftlich überkompensiert. Bei den Grünen, pressespricht man bei den Grünen, habe die diesjährige Kanzlerkandidatöse sich etwa ihre Kandidatösur damit verdient, anders als der regierungserfahrene Robert Habeck kein Mann zu sein. Das Land maßgeblich von einer zufrieden Unqualifizierten regieren lassen zu wollen wird als „frischer Wind“ verbrämt. Hat Deutschland nicht mal mehr den Versuch verdient, dass es so aussieht, als sei die Regierungsführung zu mehr als bloß der Quotenerfüllung da? (Und darf der Bundespräsident, bekanntlich ein noch höheres Amt, dann eigentlich noch ein heterosexueller Weißer sein?) Dass man den Grünen so eine Kleinigkeit nachsieht, weil man den Grünen auch alles andere nachsieht, ist dabei nicht viel mehr als ein Symptom des von mir Gemeinten: Weil sie mit ihrer wiederholten Forderung nach mehr linkem Identitarismus die richtigen Knöpfe drücken, lassen es sogar gestandene Qualitätsmedien längst an der nötigen Distanz mangeln und werben offen für einen Wahlsieg der Partei, deren größtes politisches Kapital es ist, dass sie seit sechzehn Jahren nicht mehr beweisen durfte, wie fürchterlich sie eigentlich das Land regiert, wenn man sie lässt.
Dass Identitätspolitik jungen Wählern, wohl auch unter dem Einfluss von identitären Aktivisten in sozialen Medien und zusehends öfter auch in eigentlich technischen Projekten, wichtiger zu sein scheint als eigentliche Inhalte, das „Wer ist man?“ also dem „Was tut man?“ ausgerechnet in politischen Fragen vorgezogen wird, hat augenscheinlich eine politische Nische aufgetan, die zu besetzen kaum Bedenkzeit brauchte. Aus dieser Position heraus warnt man jetzt vor etymologischem Kleinkram:
Derald Wing Sue, Professor für Beratungspsychologie an der Columbia University, hat drei verschiedene Kategorien von Mikroaggressionen beschrieben: Mikroangriffe (offensichtliche Übergriffe), Mikrobeleidigungen (klar erkennbare Unhöflichkeit) und Mikroentwürdigungen (Mitteilungen, die abweisend und ausschließend sind).
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Ich persönlich habe ja Makroangriffe, Makrobeleidigungen und Makroentwürdigungen (zum Beispiel „seien Sie woanders dumm, Sie störender Fickfrosch“) als Mittel des Wortgefechts zu schätzen gelernt. Wenn man sich von mir verletzt fühlt, dann ist die Chance also groß, dass das pure Absicht war – das spart nicht nur Zeit, sondern schont aufgrund der ausbleibenden Anregung zur weiteren Diskussion mit dem störenden Fickfrosch auch die Nerven.
Die Lehre von der „strukturellen Benachteiligung“, ob nun tatsächlich erlebt oder bloß irgendwo aufgeschnappt, ist eine lukrative; es ist ein Diskurs zwischen Akademikern und Kindern reicher Eltern, die ihrerseits einfache Arbeiter strukturell benachteiligen, indem sie ihnen ihre Sprache vorschreiben wollen, ohne selbst auch nur ein Ohr für deren Sorgen zu haben versuchen. Ich lehne mich sicherlich nicht zu weit aus dem Fenster, wenn ich behaupte, dass die Wahl des Personalpronomens seitens der Gesprächspartner nicht zu den größten Problemen eines mittfünfziger Fließbandarbeiters gehört.
Andere sind da nicht so entspannt:
Die Person, um die es geht, bricht innerlich zusammen und kann nur mit Mühe die Tränen unterdrücken, verlässt schnell den Raum. Sie, eine junge Frau Mitte zwanzig, wurde gerade »er« genannt.
Das mag nun ein Anlass zu bedauerndem Kopfschütteln und dem Stoßseufzer, man möge der jungen Frau Mitte zwanzig psychiatrisch zur Seite stehen, sein, jedoch tritt vielmehr eine Welle der Empörung über das Verhalten des so Ansprechenden ein, der sich auf diese Weise zweifellos zum Gewalttäter gemacht habe. Wer jetzt aber tatsächlich annimmt, dieses Zerwürfnis sei eines zwischen zwei ohnehin verfeindeten Gruppen, der unterschätzt den Spartenreichtum der „Unterdrückungsolympiade“ (Enrico Ippolito u.a.); so beschreibt etwa der freiberufliche Autor und „Transmann“ („taz“) Till Randolf Amelung aus Hannover auf Twitter (per Threadreader vermutlich besser lesbar), warum ein von ihm angekündigter Vortrag für den AStA der Universität Vechta am ursprünglich anberaumten Termin nicht zustande gekommen ist:
Das Thema meines Vortrags wären die aktuellen Konflikte zwischen #Trans [Transsexuellen, A.d.V.] und #Radfem [Radikalfeminismus, A.d.V.] gewesen. Meine These hierbei ist, dass die wesentliche Ursache für diese Konflikte ein postmodernes Verständnis von Geschlecht ist, was am besten gar nicht mehr irgendwas mit Biologie zu tun haben darf. (…) Doch dies wird von der postmodernern Genderfraktion unterbunden.
Nicht nur dem weiter oben zitierten Satz von Sahra Wagenknecht, sondern auch dem Thema des gecancelten Vortrags in der Sache Recht gab ein junger Mensch namens Laurence, indem er sich zu Ungunsten des Threadschreibers ereiferte:
Ein junger Mensch namens Laurence machte gegen meinen Vortrag mobil, u.a. auch mit Bilderstrecken auf Instagram (…). Ganz wichtig ist natürlich, dass man sensibel die eigenen Privilegien reflektiert. Laurence kehrt heraus, wie sehr sein weißer und nichtbehindeter Körper andere unterdrückt und dass man ihn nicht als „er“ bezeichnen solle.
Der Punkt ist erreicht, an dem mich eine Punktetabelle – also für welche Eigenschaft man in der Unterdrücktenhierarchie wie weit nach oben steigt, um sich so was überhaupt erlauben zu dürfen – ohne jede Ironie interessieren würde.
Ich hörte erstaunlicherweise erst dieses Jahr – wenn auch von einem Kabarettisten – die Frage, wie solche Leute wohl Bewerbungen schreiben, wenn man doch beim Bewerben – zumindest dort, wo man nicht wegen seiner Schwächen (Behinderung, Geschlecht usw.) bevorzugt eingestellt wird – seine Stärken anstelle seiner psychischen Probleme aufzählen und begründen sollte.
Als Ersatz für eine Persönlichkeit ist die bloße Identität jedenfalls ebenso ungeeignet wie eine psychologische oder psychiatrische Diagnose; dabei ist die Persönlichkeit eines Menschen doch seine wesentliche Eigenschaft, ohne die er nicht mehr ist als eine leere Hülle, die nach Belieben mit Projektionen gefüllt werden kann.
Wir sollten aufhören, dumme Menschen berühmt zu machen, lautete der Titel mehrerer Aufsätze, Artikel und mindestens eines Buches, die seit 2016 erschienen sind. Vielleicht ist es Zeit, diese Forderung zu erweitern: Wir sollten aufhören, Menschen dafür zu beglückwünschen, was sie nicht können – und wir sollten uns endlich alle mal etwas lockerer machen; soll heißen: kommt mal runter.
Meritokratie ist nicht die schlechteste Gesellschaftsform.
Danke für den guten Beitrag!
Das ist es, weshalb ich trotz der merkwürdigen Domain und des unangenehmen Namens des Blogs hier sehr gern lese und wiederkehren werde.
Und ja, Sahra hat Recht.
Die Domain hat historische Gründe und der Name ironische. Dass der Inhalt trotzdem gefällt, freut mich trotzdem.